Dienstag, 30. Oktober 2012

Fische, Milben, Vogelköpfe, das Leben und Stehpartys.

Danke für eure ehrlichen Antworten. Ich finde es sehr berührend und ermutigend zu lesen, dass eure Ängste den meinen sehr ähneln und ich mich in vielen Aussagen wiederspiegele.
Das mit der Angst ist ein großes Thema.



Vor anderthalb Jahren, in einer Gruppenrunde in der Psychiatrie, haben wir intensiv darüber geredet. Ein Mitinsasse war 45 und Offizier bei der Luftwaffe mit paranoiden Psychosen. Er hörte Stimmen und glaubte, er bekäme Anweisungen von irgendwelchen Geheimdiensten. Bis die Medikamentendosierung stimmte, wandelte er umher und dachte, jeder einzelne Arzt oder Pfleger wolle ihn vergiften und an die Russen ausliefern, weswegen er sich sogar Faustkämpfe mit ihnen lieferte.
Ich empfand das damals als befremdlich und insgeheim ein wenig komisch, wie in einem mittelmäßigen Hollywood-Film eben. Aber diese Dimension der Angst habe ich selbst nie erfahren. Diesen Verfolgungswahn, Stimmen hören und so weiter.
 Alles was ich kenne, sind die verschiedenen Graustufen dessen, was ihr beschreibt, plus meine persönliche Urangst vor Verlusten (= Beziehungen, einstürztenden Häusern, um meiner Mutter).
Man könnte jetzt darüber diskutieren, was erträglicher ist, und ich würde mich sicherlich jenen Diskutanten anschließen, die plädieren: "eine ausgewachsene Psychose in Verbindung mit sozialer Phobie und Paranoia ist natürlich sehr viel tragischer als Verlust- und Versagensängste, Unsicherheit, Leere und ein paar knackige Panikattacken sonntagmorgens!". Was letzteres aber nicht verharmlost oder abwertet.
Ich will damit nur sagen, dass wir glücklich sein sollten, uns mit einigermaßen hoher Wahrscheinlichkeit meistens unseres eigenen Verstandes bedienen zu können, überwiegend "Herr im eigenen Haus" zu sein.
Dennoch: Ich kenne das, jenen Zustand in dem die eigene Essstörung/Depression/Persönlichkeitsstörung die Oberhand ergreift und mich zu steuern scheint, mein Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen will.
Und leider, leider lasse ich sie auch viel zu häufig gewähren und mich leiten. Aber warum?
   Warum wähle ich nicht die Selbstbestimmung?
   Warum lebe ich in einer Diktatur meiner kranken Persönlichkeitsanteile?
   Warum fresse, hungere, heule, schlafe, leide, schneide ich (mich)?
Die Antwort ist so einfach, dass man sie beinahe zu übersehen glaubt:
"Sie haben Angst, Phoebe."
Ich antworte meiner Therapeutin, ich hätte keine Angst so wie früher, wäre furchtlos inzwischen.
Sie widerspricht mir und erklärt, die Angst sei der Motor, der mein gestörtes Selbstbild und Verhalten am Laufen hält, weil sie mich lähmt und meinen Verstand verzerrt.
Angst ist eine Reaktion des limbischen Systems auf Stress.
Stress wirkt sich auf die Hormonproduktion im Gehirn aus, ebenso auf die Psyche (haha, das ist ja was ganz neues).
Teufelskreis durchbrechen?
Paranoia zulassen?
Ängste verdrängen?
Sich seiner Furcht stellen?
Psychotisch werden?
Wahnhafte Angst?
Stress aushalten Stressniveau senken.
Angst nehmen lassen Angst festhalten.
Alles stürzt zusammen sich fallenlassen vertrauen.
"Ich habe nur noch Angst vor Fischen, Milben, Vogelköpfen, dem Leben und Stehpartys. Und davor, fett zu sein. Was wollen sie hören?"

Montag, 29. Oktober 2012

Krabbelkopf.

Scheint als könnte ich bei ihm nicht mehr schlafen. Oder ist die Nacht einfach zu verlockend als geheimer Spielplatz für peinliche Aktivitäten?
Naja, was heißt peinlich. Ich blogge ja nur. Er findet es lächerlich und kindisch, immerhin bin ja ja schon zwanzig.
Mein Kopf ist vollkommen übersättigt.
Und das kommt mir ganz gelegen, denn was gibt es schöneres, als eine Nacht tot zu schlagen und morgens um sechs die Erste im Fitness zu sein? Wahrscheinlich einiges, wenn man gut drauf ist.

Ich habe mir überlegt, einmal eine Umfrage (oder vielleicht noch mehr?) zu starten unter meinen tapferen 52 (!) Leserinnen. In diesem Sinne: Harret dem, was kommen möge.

--- Edit: Hat nicht geklappt. Bin zu doof dafür. Aber dafür möchte ich euch folgende Frage stellen:


Samstag, 27. Oktober 2012

What shall we do with the drunken sailor?

Wir schauten vorhin eine Folge Scrubs, in der Dr. Cox den Tod von drei Patienten verschuldet und sich infolgedessen mit aufgequollenem Gesicht betrinkt (bzw vom Trinken aufquillt).


Ich sagte zu T.: "Bah, das will ich nicht sehen."
Er zuckte mit den Schultern. "Warum?"
"Keine Ahnung, ich hatte mal einen Freund, der hat auch gesoffen. Alki, weißt du? War total anstrengend mit ihm."
T. lachte und stand auf, um sich einen Kaffee zu machen. "Komisch, die Geschichte kenne ich doch."

Wir treiben durch die Zeit. Schon wieder eine Woche vergangen, unbemerkt.
Mein größtes Problem? Antriebslosigkeit.
Das führt dazu, dass ich im Prinzip nichts tue außer schlafen, essen, Sitcoms-und-3sat-gucken, Patiencen-legen und Kreutzworträtsel-lösen. Manchmal gehe ich ins Fitti und trainiere mir 300 kcal ab, manchmal lese ich ein paar Seiten Mo Yan. Manchmal ist mein Freund scharf auf mich, dann machen wir Sex. Manchmal fahre ich zu meiner Familie und futtere mich durch den Kühlschrank hindurch. Aber das ist selten.
Die Leere in mir, welche dazu führt dass ich seit Wochen durch die Zeit treibe wie ein morsches, fauliges, schweres Stück Holz; diese Leere absorbiert jeden Gedanken. Deswegen schreibe ich momentan so selten hier. Es ist so anstrengend. Mein Alltag überfordert mich.
Ich mache rein gar nichts produktives, geschweige denn zielführendes. Ich unternehme nichts im Bezug auf Abnehmen und Schule.
Ich kann Werbejingles mitsummen! How I Met Your Mother mitsprechen! Toll.
Wie soll es weitergehen? Wenn es nach mir ginge, könnte es ewig so weitergehen. Ich verspüre nicht so viel Druck wie sonst, bin wie auf Autopilot. Alles fließt, ich treibe. T. trinkt.
Leerlauf, Leerzeichen, Leerstelle, Zeitraffer.
Um sieben Uhr geweckt werden - Morgenmagazin anschalten. Eine Rauchen, dabei Kaffee machen. Drei Riegel Kinderschokolade zum Kaffee essen (sie darin schmelzen lassen). Solitär spielen. Zu Pro7 wechseln, Kreutzworträtsel, duschen, anziehen. Die Sitcoms kann man durchgängig sehen, wenn man will, von halb neun bis fünf Uhr. Ich ernähre mich fast nur von Kinderriegeln und Müsli. Gehe einkaufen, Milch und Kaffee und Tabak. Eine Flasche Vodka, eine Flasche Cola. O-Saft zum Ausnüchtern.
Das Fernsehprogramm strukturiert den Tag. Ich könnte ihn auch anhand von Zigaretten, Gläsern Alkohol oder Toilettengängen strukturieren, aber so ist es am einfachsten. Es tut sich nichts, nichts.
Und ich bin zu feige mir das Leben zu nehmen, zu viele Schuldgefühle und -geknäule in meinem Herz.
Auch wenn ich gehen wollte, könnte ich nicht. Wegen meiner Mutter. Wegen ihm.
...

Newbie, give me a little trouble, I'm having some help here... 
 Dr Cox

Dienstag, 23. Oktober 2012

Kein Heim, allein.

Die Wohnung ist leer und kalt und dunkel.
Meine Schritte leiten mich in das Schlafzimmer meiner Mutter und meines Steifvaters, ich klaue Pralinen und Cookies, esse im Badezimmer, blättere nervös durch den neuen SPIEGEL und schmecke Blut.

Ich hasse sie alle so sehr.

Meine beste Freundin hat mir ein kleines Paket aus Leipzig geschickt, ich mag den Brief nicht öffnen. In dem knallbunten Papier finde ich ein Täschchen, genäht aus eine Haribo-Party-Spaß-Tüte.
Ich verstehe nichts, fühle nichts, dunkel.
T. ist todunglücklich und findet dennoch die Kraft, mit mir zu diskutieren, mich wieder und wieder zu Grunde zu richten mit hart geschliffenen Satzkanten: "Du bist der arroganteste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Deine Familie tut mir leid. Du lebst zwischen den Welten, du bist bei mir Gast und bei ihnen du hast keine Rechte mehr, das weigerst du dich nur, zu akzeptieren. Du gehst mir so sehr auf den Sack, Hass."
Ich fühle mich schmutzig und bräsig und unverstanden.
Die Wohnung ist leer und kalt und dunkel und ich mache alle Lichter an, aber sie sind so einsam!

Sonntag, 21. Oktober 2012

Happy Birthday.



Sorry, ich habe mich jetzt länger nicht gemeldet, auch wenn ich jeden Tag auf Blogger war und die neusten Einträge gelesen habe...
Mir fehlte einfach die Kraft, einen Text zu schreiben der zum Ausdruck bringt, wie es mir geht.
Am Donnerstag bin ich zwanzig geworden.
Mittwochabend sind sind ein suizidaler T. und ich nach Sachsenhausen gefahren, zum Konzert von Pickers in einer winzigen Kellerspelunke. Es war grandios. Man konnte rauchen und überall hingen Elvis-Plakate, hässliche Hipster-Tussis mit dicken Beinen tanzten ausgelassen und gaben mir das Gefühl, eine bildhübsche Elfe zwischen ihnen zu sein (haha). Nein, im Ernst, das Konzert war richtig geil, sogar T. hat es gefallen. Wir nahmen uns ein Taxi zurück (Vor-Geburtstags-Luxus) und ich war relativ pünktlich um 0:00 bei meiner Family zu Hause.
Angeregt durch meine Therapeutin hatte ich am Mittwochvormittag mein Zimmer aufgeräumt und umgeräumt (ich habe das Bedürfnis, alle paar Monate Bett, Schreibtisch und Kommoden rotieren zu lassen, damit mein Zimmer mich weniger ängstigt. Ich weiß, das hört sich total bescheurt an, aber wenn ich eine bestimmte Phase in einer bestimmten Bett-Tisch-Kommode-Konstellation durchgemacht habe bekomme ich „Angst“ vor diesem Raum, fühle mich wie ein zahnloser Tiger im viel zu kleinen Käfig und muss dringend etwas ändern. Die Crux ist, dass mir dazu die Kraft fehlt und ich zwar theoretisch den Drang verspüre, Wände zu streichen und Möbel rauszuschmeißen, ich praktisch aber nicht einmal in der Lage bin, mein Bettlaken zu wechseln).
Also rauchte ich meine erste Kippe als „Twen“ in meinem frisch bezogenen Bett mit der schönen Aussicht auf den stilvoll beleuchteten Bieberer Kirchenturm und stellte irritiert fest, dass der Schrecken des Geburtstages beinahe verschwunden war.
Ich hatte mich die ganze Woche innerlich zerfleischt, und plötzlich schien alles ganz leicht. Sehr seltsam. Die Sache ist, ich hasse mich viel zu sehr als dass ich es genießen könnte, im Mittelpunkt zu stehen (AHRG), beschenkt (AAHRG) und liebkost (AAAHRG) zu werden, wie es nunmal üblich ist wenn man sich jährt. Zudem gibt es in meiner Familie das Ritual, dass das Geburtstagskind (wenn es nicht gerade in einer Klinik rumgammelt weil es sich mästen lässt) morgens einen Kaffee ans Bett gebracht bekommt, in einen Morgenmantel schlüpft und unten im Wohnzimmer von einer Arkade von Kerzen begrüßt wird, Blumen und Geschenke vorfindet und dabei die ganze Zeit geherzt und fotografiert wird. Das war mein Horrorszenario.
Ich wäre wahrscheinlich in Tränen ausgebrochen, hätte den Vormittag alleine mit Fressen und Schneiden verbracht und so weiter.
Überraschung: Als hätte man meine Gebete erhört, hörte ich nichts. Kein Tapsen, keine Kaffeemaschine, kein Geschenkpapiergeraschel, keine Feuerzeuge. Ich schlich mich ins Bad und dann ins Wohnzimmer. Nur Blumen und eine Karte. Meine Mutter war im anderen Badezimmer und offensichtlich im Stress, rechtzeitig zur Arbeit zu kommen. Sie umarmte mich (gerade noch aushaltbar) und düste ab.
Yay! Ich war erleichtert hoch zehn und ging entspannt duschen (ohne wiegen vorher), latschte dann zum Bäcker (Nougatcroissant) und genoss (!) mein einsames und kleines (Croissant plus Schoko-Soja-Drink) Frühstück vor der Glotze (Two And A Half Man, Big Bang Theory). Es war nahezu perfekt.
Ich verliere mich in Details. Also: Ich befand mich im „Schon“-Modus, man könnte es auch „Selbstschutz-Modus“ nennen. Ich ignorierte meine fetten Beine, mein fettes Gesicht und die Tatsache dass ich viel zu erkältet war um mehr zu tun als mit Schmerzen und Hitzewallungen auf unserem grünen Ledersofa zu liegen. Es war okay, echt. Ich war okay. Ganz seltsam und fremd, dieses Gefühl. Nachmittags kamen mein Opa und meine Schwester, auch erträglich, gegen Abend noch mein Erzeuger und der Freund meiner Schwester. Alle betranken sich (außer mir), was mich anekelte, und wir aßen Kürbissuppe. Dann fuhr mich mein Vater netterweise noch zu T., der mich mit einer roten Rose (OMG) und Karten für Skunk Anansie (OMFG) überraschte. Wir sahen uns The Voice an und gingen früh schlafen.
Keine Gratulationen von diversen Ex-Lovern, auch gut. Eine Gelegenheit, loszulassen von Erinnerungen?
Am Freitag brachte ich erstmal meine Kröten zur Bank – stolze 240 € - und erledigte ein paar Einkäufe. Mein Geschenk an mich selbst: ein schwarzer H&M-Rock mit dem perfekten Schnitt, das heißt er betont schlanke Beine bis zu dem Punkt, wo sie fett werden und versteckt Speckröllchen an der Hüfte. Ich werde bald mal ein Foto posten!
Dann hatte ich noch megaguten Sex mit T. (mit wem sonst, sehr lustig Phoebe) und ein paar mittelschwere Panikattacken wegen Kuscheltieren auf dem Flohmarkt. Ich drehe manchmal durch, weil ich denke, dass Dinge eine Seele haben und verrecken wenn ich sie nicht rette, zum Beispiel Tassen, die mir mein Vater mal geschenkt hat und deren Aufenthaltsort ich nicht kenne, alte Bücher, die ich nicht ausreichend gewürdigt habe oder ähnliches. Dann zittere ich und heule und verliere jeglichen Bezug zur Realität, weil ich mich so schuldig fühle am Leid dieser Tassen und Bücher (oder eben Stoffdinos auf dem Flohmarkt). Meine Therapeutin weiß, dass ich in Wirklichkeit Angst habe vor Beziehungen zu Menschen, vor Abweisung, Streit, Zuneigung, und das dann auf Gegenstände projeziere. Jaja.
Sonst ist nichts außergewöhnliches passiert. Ich merke, dass der Selbstschutz-Modus sich langsam verflüchtigt, vor allem seit ich gestern bei „Kreutzer Kommt“ eine anorektische Heroinabhängige gesehen habe, die einfach nur bildschön war. Und dann mich sehe mit meinem fat-face und meiner Wampe und der Hass und die Wut wieder in mein Hirn sickern, dahin wo sie hingehören.
Mal sehen was passiert.
Ich bin passiv und warte auf ein Signal, wieder hungern zu können. Zwanzig und dünn, das ist zwar nicht so gut wie Neunzehn und dünn aber auch okay.
 

Montag, 15. Oktober 2012

Fern-Sehen.

Vorgestern bin ich die Treppe herunter gefallen.
Wollsocken, selbstgestrickt von Oma, glitten über glatte Treppenfliesen und ein unglücklicher Körper schlug zwanzig Mal auf, bevor er auf den ebenso glatten Flurfliesen zur Ruhe kam.
Ich hatte versucht, mich mit den Armen abzufedern und mir damit lilafarbene Hämatome auf dem rechten Unterarm, eine Schürfwunde am Handgelenk und Prellungen an Rücken und Arsch zugezogen. Es war ziemlich still in der Wohnung, meine Mutter telefonierte, meine Schwester lag auf dem Sofa und blätterte in der NEON. Der Aufprall meines massigen Leibes hörte sich an wie ein Sack Mehl, den irgendjemand unsanft abgeladen hatte.
Dieses Gefühl, diese zwei Sekunden des Kontrollverlustes, den Gesetzen der Schwerkraft ausgeliefert, lässt sich schwer in Worte fassen. Ich weiß, dass ich dachte „Genickbruch, Schädelfraktur, hoffentlich haue ich mir keinen Zahn aus!“. Ich bin so eitel, pfui.
Meine Mutter rutschte mit rutschfesten Hausschlappen in den Flur, um mich aufzulesen.
Dem Mehlsack kamen die Tränen erst, als sie ihn in die Arme nahm. Ich weinte nicht wegen der Prellungen oder weil ich mich so erschrocken hatte, nein, ich weinte ob dieser Berührung.
Meine Schwester stand unschlüssig auf einem Bein hinter ihr und taxierte mich.
Ich versuchte, den Schmerz, den ich verspürte, es war kein körperlicher, zu definieren, zu orten, aber es gelang mir nicht.
Dieses Fallen, das es braucht, um gehalten zu werden.
Wie unerträglich eine tröstende Umarmung sein kann, wenn es einen innerlich zerreißt vor Selbsthass, Angst, Hilflosigkeit.
Das Gefühl, Lichtjahre weit weg zu sein von meiner Mutter, sie durch Milchglas zu sehen.
Nur Leere in mir, kein Wunsch, keine Idee, kein Ziel, keine Freude an nichts.

Ein paar Stunden später.
Meine Mutter, meine Schwester und ich fuhren zur Buchmesse. Sie plauderten über den Schulausflug nach Marbach, ich plauderte mit durch ein zehntausend Kilometer langes Rohr, das mich mit ihnen verband. Ich will gar nicht auf die Buchmesse gehen, wollte ich sagen. Aber du hast es dir doch gewünscht, hast es vorgeschlagen. Ich weiß, aber ich will gar nicht.
Und das ist außerdem alles viel zu teuer scheiße ich bin ein verfickter Geldschlucker und nur traurig und ziehe alle runter mit meinem leeren Blick aber ich kann nicht ich habe Angst ich will nicht dass sie das für mich tun ich will nicht kann nicht nicht nein nicht nicht.
Ich war so unglücklich wie in meinem ganzen Leben noch nicht.
Es war diese tiefe, durch Mark und Bein gehende, vollkommen lähmende Traurigkeit.
Ich wusste, es würde nie wieder ein Lichtstrahl durch meine Netzhaut dringen.
Kein Mensch würde mir folgen können dorthin, wo ich mich aufhielt.
Irgendwer sagte etwas mit Oma und sofort stiegen mir dicke Tränen in die Augen. Ich hatte zu wenig an sie gedacht, seit sie tot ist. Ich war ein ekelhafter Scheißmensch und hässlich und fett.
Meine Hämatome leuchteten blau-grünlich und schmerzten.
Wir schafften es bis in die Eingangshalle der Buchmesse, bevor ich kapitulierte.
Stattdessen gingen wir in eine ehemalige Studentenkneipe meiner Mutter und aßen etwas.
Ich bestellte eine traurige Kürbissuppe und heulte Rotz und Wasser. Innerlich. Meine Mutter war so unfassbar lieb, so lieb, dass es nicht zum Aushalten war. Ich wollte sie nicht alleine lassen, aber ich war so todmüde.
Mein Inneres fühlte sich klobig und kalt an, als hätte jemand einen Messingfötus im achten Monat in mich eingepflanzt.
Ich stehe wieder auf dem Grenzwall zum Wahn, zum Verrücktsein, und rutsche mit Omas Wollsocken auf und ab.

Mittwoch, 10. Oktober 2012

Vulkanologie und Angst.

Beziehungen sind zerbrechlich, instabil, unstet.
Jeden Tag muss ich darum käpfen, sie zu erhalten. Ich flicke und kitte und lüge und verrate und verschweige und gehorche, dass mir nur niemand mehr verloren gehen mag, jeden Tag. Jeden einzelnen, verschissenen Tag.
Seit ich sechs bin, lebe ich in mehr oder weniger ständiger Alarmbereitschaft.
In ständiger Angst.
Ich beobachte und lerne. Ich lerne: niemand braucht dich so sehr wie du ihn brauchst. Niemand braucht dich so sehr wie deine Mutter. Niemand verletzt dich so sehr wie dein Vater.
Es gibt kein Gleichgewicht der Kräfte, der Bedürfnisse.
Es gibt keine Sicherheit.
Jahre später, wenn ich unter paranoid anmutenden Panikattacken leide, werde ich das Gefühl haben, die ganze Welt warnen zu müssen, dass ihre Gebäude, deren Statik, die Elektrizität, alles, die Autos, die Abwasserkanäle unter ihnen, das all das dem Wind nicht stand hält. Ich werde hyperventilieren und wissen: Es gibt keine Rettung. Jemand hat sich verrechnet, verplant. Es ist zu laut hier, die Schallwellen könnten Häuser zum Einsturz bringen. Jedes Hochhaus hat so viele Gasanschlüsse, so viele Wasserleitungen, die platzen können. Jedes Sitzelement im Wohnzimmer muss doch so schwer sein, dass die Mauern unter ihm nachgeben? So viele Menschen, und ich werde sie nicht retten können.
Ich werde keine Todesangst haben, ich werde Angst haben um meine Mutter. Dass sie stirbt.
Im Alter von sechs Jahren bin ich ein stilles, kluges Kind, ein wenig stur und sehr wählerisch. Und ich habe große Angst. Ich werde niemanden halten können, das ahne ich. Wie denn auch?
Als meine Eltern sich trennen, bin ich dreizehn. Ich begreife, dass alles auseinander fällt, mein Vater bedoht uns, er will sich töten. Meine Mutter und meine Schwester weinen und schreien, ich zittere vor Angst und versuche, ihn mit Worten zu beruhigen. Blut strömt aus seiner Nase, er verliert den Verstand, denke ich, und rede munter weiter auf ihn ein.
Nach der Trennung holt er mich und meine Schwester manchmal ab, Essen gehen. Es gießt in Strömen und wir fahren nicht zum Restaurant. Wir fahren Landstraße. Ich sehe den Tachometer und schweige. Mein vater rast schweigend durch das Gewitter, als jage er den Tod. Meine Schwester weint leise. Ich bin vierzehn, Mobbing-Opfer und hochbegabt, und ich bin bereit zu sterben in diesem Scheißauto.
Nichts passiert.
Ich verliere meine Freundinnen an die cooleren Cliquen der Schule, an Jungs und an die Depression.
Ich bin schwach, ohne schwach zu wirken, müde, ohne müde auszusehen, und ich habe Angst.
Ich mache noch eine Therapie, mit siebzehn, verliere die Panikattacken und werde magersüchtig.
Ein Jahr später lerne ich mein antologisches Gegenüber kennen: T.
Er lehrt mich, ohne sich dessen bewusst zu sein: Ein Wort, und alles ist vorbei. Eine Geste, und wir sind tot.
Es fasziniert mich, das Spiel mit dem Risiko. Es ist anstrengend, aber endlich kann ich meine erworbenen Fähigkeiten anwenden: Unterordnung, Betrug, Schlichten, Trösten, Schützen, Retten, subtil Kritik üben, sich Festbeißen.
Ich liebe ihn und bin unfähig, ihn loszulassen.
Er liebt mich und stößt mich von sich, immer wieder in den Abgrund, um dann in der letzten Sekunde halbherzig seine Hand auszustrecken und mich wieder hochzuziehen.
Das endlose Spiel. Er wärmt mich, überschüttet mich mit Komplimenten und Liebe, um dann, ganz unertwartet, wegen einer Lappalie auszurasten und mich zu hassen. Er beendet die Beziehung, schimpft und wütet, schlägt nach mir.
Ich habe mein Handy den ganzen Tag bei mir, weil ich erfahren habe was passieren kann, wenn ich nicht erreichbar bin. Ich setze Worte auf blauen Samt, wenn er hochkocht.
Ich tanze auf dem Vulkan und hole mir Narben und Brandwunden, aber ich möchte mich der Illusion hingeben, ihn zähmen zu können, und dann irgendwann einen so wertvollen Vulkan zu besitzen, sicher zu wissen.

Montag, 8. Oktober 2012

Nach(-)tisch.

Heute trage ich eine Jeans (oha!).
Bilder der letzten Tage: Fetti mit geschätzten 63 kg. Im Fitness waren es gestern 61 kg mit Kleidung, aber das kann nicht sein, ist auch keine Digitalwaage.

Morgens halb 8 auf dem Weg zum Sport.

Nach FA in der City.
Und nun: der Grund warum ich nie nie nie Hosen trage: meine fetten Oberschenkel (ja, oben berühren sie sich nicht, deswegen scheint da Licht durch, dann folgt die Fettfalle).
Yay. Was meint ihr?


Sonntag, 7. Oktober 2012

Schwarze Lunge. / Anfang.

Ich bin Kettenraucherin.
Angefangen habe ich (hat alles) in der Nacht zwischen dem dritten und vierten Februar 2010.  
Meine beste Freundin A. wurde volljährig. Nachdem wir in Frankfurt Cocktails getrunken und überteuerte Enchiladas verspeist hatten, kauften wir mit jugendlichem Übermut ein Päckchen Marlboro. Wir trugen Trenchcoats von Benetton, unsere elegantesten High Heels und fühlten uns wahnsinnig erwachsen und mondän, als wir ein Taxi (Stichwort High Heels) heranwinkten und angetrunken kichernd in ihre Wohnung fuhren.
A. war Waise und lebte mit ihrer Großmutter und einem fetten Kater im vierten Stock eines Plattenbaus. Wir legten Muse auf und ließen die Beine vom Fensterbrett in die Nacht baumeln, tranken Rotwein aus Wassergläsern, philosophierten über den Tod und schmiedeten verrückte Zukunftspläne („Ich werde unfassbar kluge Bücher schreiben und in einer Altbauwohnung mit Stuck an den Decken leben, allein versteht sich, und Affären mit anderen Künstlern haben. Aber es wird mir nichts bedeuten, ich werde sie ausnutzen und in den Wahnsinn treiben. Scheiß Männer, ey!“).
  Das Päckchen Kippen leerte sich zunehmend.
Ich weinte ein bisschen wegen diesem Politik- und Geschichtslehrer, Rouven, wir duzten uns und er hatte mir in den vergangenen Monaten schöne Augen gemacht.
Komplimente, ein Beatles-Ständchen („Honeypie, you are making me crazy, I'm in love but I'm lazy...“), Tenor-Sopran-Flirts in unserem Oberstufen- und Lehrerchor.
Ich muss dazu sagen dass er nicht mein Lehrer war, wir kannten uns nur durch den Chor und die dazugehörige Probenfreizeit (Vivaldi bei der Weihnachtsfeier) im Winter, bei der es heftig geknistert hatte. Ich war 17, wog etwa 67 kg und war als Rosa Luxemburg der Schule in Business-Outfits verschrien, er war 36, Charmeur und Galant, narzisstischer Prediger kapitalismuskritischer Parolen, rhetorisches Genie und der Lehrkörper mit den blauesten Augen der Schule.
Nach den Weihnachtsferien begrüßte er mich, indem er meine Hände in seine nahm und mir tief in die Augen sah.
  Ich war ein bisschen verknallt, gebauchpinselt und naiv, er hatte mich in seinem Auto mitnehmen wollen, wir trafen uns auf dem Schulflur („Na, du siehst gestresst aus, alter Mann!“ - „Hallo schöne Frau! Ach, mein LK bringt mich noch um. Ich habe deine Facharbeit durch, das ist ganz groß, ich bin echt beeindruckt. Nein wirklich.“ - „Danke. Wow.“ - „Ich muss leider... Aber, Phoebe – du riechst wahnsinnig gut. Was ist das?“ - „Chance von Chanel.“ - „Mademoiselle porte Chanel... Au revoir, mignonne!“).
Dann, ganz plötzlich, war es vorbei mit den kleinen Aufmerksamkeiten. Kein Kuchen mehr, den er mir in meiner Freistunde schenkte, keine mehrdeutigen Blickkontakte beim Singen, kein Interesse mehr für meine „beeindruckende“ Facharbeit, mein Parfum, meine Meinung zu diesem oder jenem.
  Ich wusste, dass unser Schul- und Chorleiter ihn auf mich angesprochen hatte.
Was ich nicht wusste, war dass ich nicht die erste Schülerin war, die er mit seinem Charme „beglückt“ und um den Finger gewickelt hatte, das würde ich erst Monate später erfahren.
  A. klopfte mit den Füßen gegen die Hausmauer und berührte tröstend meine Schulter. Matthew Bellamy jaulte und schrie sich die Seele aus dem Leib, und ich machte mir ernsthafte Gedanken über das Erwachsenwerden. „Ich glaube, ich nehme ein paar Kilo ab. Was meinst du? Nur um ihm und all den anderen Wichsern in den Arsch zu treten. Er soll sehen, wie ich immer attraktiver werde und dass er nicht der einzige Mann ist, der mich ansieht.“ 
A. zuckte mit den Schultern. Sie war zehn Zentimeter kleiner als ich, hatte goldfarbene taillenlange Locken und eine perfekte, zierliche Sanduhrfigur. „Das brauchst du nicht. Echt nicht.“ Ich widersprach ihr im Geiste und angelte die letzte Marlboro aus der Schachtel. 
Mein Körper war voller unpassender Rundungen, ich hatte kaum Taille, dafür aber ausladende Hüften, stämmige Arme und einen fetten Arsch. Und schwabbelige, fette Brüste. Das musste dringend einmal generalüberholt werden, wieso kam ich erst jetzt darauf?
Klar, ich liebte Essen.
Ich liebte Schokolade, Chips und das Essen meiner Mutter, ich aß am meisten von meiner ganzen Familie und das schien niemanden zu stören.
Wenn es mir nicht gut ging oder mir langweilig war, stöckelte ich in den 5-min-Pausen mit meinen Stiefeletten zum Automaten und schob in Turbo-Geschwindigkeit eine Tafel Ritter Sport in mich hinein, oder auch ein fettes Nougat-Croissant. Ich konnte anderthalb Pizzen essen plus die Nudelreste von meiner Schwester.
Ich hatte das bisher nie problematisiert. Ich war eine Fressmaschine!
Das ziemt sich nicht für eine Tussi, die eine Lady sein möchte. Immerhin rauchte ich jetzt. Ich betrank mich auf dem Fensterbrett! Ich musste jetzt, verdammt noch mal erwachsen werden. Und erwachsen heißt auch: diszipliniert!
A. und ich sahen uns in jener Nacht noch Fatih Akins „Gegen die Wand“ an, weil wir ohnehin nicht mehr schlafen konnten, ein fetter Kater wärmte meinen Bauch und ich aß meine Henkersmahlzeit (Honigsmacks).
Das war der Anfang von allem.
Mit dunkel umschatteten Augen fragte A. mich, ob ich das ernst meine mit dem Abnehmen, ich bejahte.
„Naja, jedenfalls solltest du dir später Zigaretten kaufen, honey. Du weißt ja das Rauchen beim Abnehmen hilft. Irgendwie wirkt Nikotin auf den Stoffwechsel.“

Mittwoch, 3. Oktober 2012

Mr Cohen.

Heute ist so ein Leonard-Cohen-Tag.
Graublau schattiert mit schwarzem Tee und der Aussicht auf eine Tour mit meinem rostigen Fahrrad.
Alles fühlt sich an als ob ein alter Sack mit Reibeisenstimme und weisen Augen Gott spielen dürfte, nur heute, und er darf. Es geht mir gar nicht so schlecht, nach einem Frühstück mit meiner Mutter bin ich relativ aktiv und plane, mir die untere Haarpartie "graphitbraun" zu färben (so dass die honig- bis schokobraunen Locken darüber fallen und es nur leicht durchscheint). Stelle mir das ganz cool vor.

"Ich wünsche mir, dass du aufhörst so viel zu essen", T. gesteren Abend am Telefon.
Ich weiß selber, dass ich fett bin, danke. Einen kurzen Moment lang dachte ich, dass das jetzt eine tolle Gelegenheit wäre, 10 kg zuzunehmen abzunehmen. Dann verschwand der Gedanke mit dem nächsten Schwall Rauch aus meinen Nasenlöchern. Ich inhalierte noch einmal tief.
"Ich würde mir auch sehr wünschen, dass du aufhörst zu saufen." Ich wartete kurz. "Im Übrigen habe ich heute vielleicht dreitausend Kalorien zu mir genommen und war, wie du weißt, um sieben Uhr früh im Fitness. Das sehe ich als Fortschritt zu zehntausend Kalorien plus null Sport, genauso wie es ein Fortschritt ist wenn du erst abends anfängst zu trinken und dann nur eine dreiviertel Flasche leer machst."
"Du hast ja Recht, Haselmaus. Wir sollten einander keinen Druck machen," du machst mir Druck!, "sondern gut zueinander sein. Ich wünsche mir das ja nur."
Ich drückte die Kippe aus und schwieg.
Er atmete laut in den Hörer, "Ich schau mir jetzt noch eine Folge South Park an und gehe dann schlafen."
Etwas, das ich noch sagen wollte, verflüchtigte sich in meinem Kopf. Eben war der Gedanke, zu einem Vorwurf oder einer Entschuldigung oder einer Liebeserklärung formuliert noch da gewesen, jetzt verschwunden. Ich fröstelte und presste die Wärmflasche noch enger an meinen fetten Bauch.
"Phoebe?" - "Ja, sorry, habe gerade vergessen was ich sagen wollte." Seit wann bin ich so?





Keine Ahnung.
Punkt, punkt, pumkt, tröpfelt das Hirn auf den Boden und ich singe laut dabei!




Montag, 1. Oktober 2012

Selbstmitleid No° 2.

Mein Leben ist grottenschlecht.
Humorlos, zynisch und wellenförmig. Ich hocke mit meinem PC auf dem Boden seiner Wohnung und höre T.s gleichmäßigen Atem. In unregelmäßigen Abständen murmelt er etwas wie "Grins mich nicht so an, immer grins, grins". Er ist Schlafredner.
Ich war heute im Einkaufscenter um die neue Titanic zu kaufen und einen Mocca-Frappuchino bei Starbucks zu trinken, mit fett Sahne und so. Plötzlich löffelte ich mit einer geschnorrten Plastikgabel ein Glas Nutella im Buchladen leer, dass ich irgendwie gekauft haben musste.
Dann befand ich mich in der Damentoilette und schnitt mit einer alten Rasierklinge meine linke Pulsader am Handgelenk auf, mit kalter Präzision und Hitzewallungen in meinem schwarzen Trenchcoat, wickelte eine halbe Rolle Klopapier darum und fuhr mit dem Fahrrad zurück.
Mein Freund war schon ziemlich blau. Ich hatte ihm gewisse sexuelle Gefälligkeiten für den Abend angekündigt und bat ihn, Rücksicht auf meine Verfassung zu nehmen und, naja, eben heute nix mehr zu machen. Ich halte es nicht aus, ihm diesen Körper zu präsentieren.
Ich halte es nicht aus, zu wissen dass ich heute wieder für 15€ Süßkram gegessen habe.
Hasse dieses Sodbrennen, diese Völle, diese Oberschenkel, die bei jedem Schlag auf meine Titten mitschwabbeln, hasse seine trunkenen Statements zur Finanzwirtschaft, hasse es kein Zuhause zu haben. Ich hasse es, zwanghaft essen zu müssen weil ich meine Angst nicht an die Oberfläche lasse will. Hasse die Narben auf meinen Armen, hasse meine fette Fresse, meine fetten Oberarme und meinen weichen, rotgesprenkelt-verbrühten Bauch.
Mein Leben ist verdammt beschissen und ich selbst bin Schuld daran, das ist das ekligste.
"...das muss man dann immer individuell gucken", murmelt T. und schwenkt seine Beine diagonal ins Bett.