Donnerstag, 31. Januar 2013

Damals...

14.9.2010
Schlechter Tag.
Problem Nummer eins: Essen. Die Erhöhung ist präsent, die Gedanken an das „mehr“ schwer abzustellen. Zeitstress. Zu langsam, zu schnell? Die immer auflodernde Panik, zu früh fertig zu sein, zu viel im Mund zu haben, zu hastig zu kauen, zu schlingen, zu fressen. Und dann diese Stolperfallen, die ich mir selbst – besser gesagt meiner Krankheit – in den Weg gelegt habe: Fett morgens, Kohlenhydrate abends. Mit Absicht.
Als würde das nicht schon als Herausforderung genügen, will Frau Naumann auch noch, dass ich wieder mehr Eigenverantwortung übernehme. Nächste Woche. Ich habe Angst davor – Angst sowohl vor der Versuchung, etwas wegzulassen oder noch essgestörter zu essen (es guckt ja keiner) als auch vor dem Buffet. Vor der Auswahl. Davor, am Ende der Krankheit zu viel Raum zu geben oder auch zu viel zu essen, je nachdem wie man es dreht und wendet. Horrorvision: unabsichtlich, mangels Achtsamkeit und Konzentration zu viel gegessen zu haben.
Als wenn es darum gehen würde! Als ob dreißig oder vierzig Kalorien mehr oder weniger einen Unterschied machen würde. Es fällt mir so unglaublich schwer, loszulassen, es zu akzeptieren. Ich muss zunehmen, ich bin nicht zu dick. Verdammt. Ich habe jetzt schon Bauchschmerzen beim Gedanken an Montag – Videoaufnahmen zur Selbstwahrnehmung. Ich will mich nicht wieder ansehen und denken „so sollte es bleiben, auf keinen Fall zunehmen, tendenziell lieber ein bisschen abnehmen, vor allem an den Beinen und am Bauch…“.
Tja. KBT (Konzentrative Bewegungstherapie) war dann auch ein totaler Schuss in den Ofen. Ständig Missverständnisse. Ungerechtfertigte (?) Kritik von allen Seiten, und was bleibt ist die Frage, wie ich damit umzugehen habe. Ich drehe mein Fähnchen NICHT nach dem Wind, aber ich bin diplomatisch und versuche, niemanden zu verletzen – white lies. Ist das falsch? Warum ist es mir so wichtig, mich zu verteidigen und „gut dazustehen?“ Kann ich nicht einfach hinnehmen, dass ich nicht perfekt bin und Fehler mache? Ich sehe immer nur meine Fehler und Fehltritte und verurteile mich dafür. Und die anderen? Warum kann ich nicht einfach ordentlich wütend werden, sondern hadere mit MIR? Versuche, MICH anzupassen statt etwas Verständnis von außen einzufordern. Ich stecke fest.
Habe nur geweint. Nach dem Mittagessen ging gar nichts mehr. Bewegungsdrang, Völlegefühl, Panik (ganze Portion!), das Gefühl zu versagen. Ich hatte mir vorgenommen, größere Bissen und schneller zu essen. Die ganze Zeit über ekelte es mich an, ich hatte den Eindruck, alle beobachten mich und denken, dass ich schlinge und fresse und stopfe. Und am Ende wäre ich wieder fast nicht fertig geworden. Scheiße.
Muss besser werden. Fange wieder mit Promethazin an.

15.9.2010
Klare Verbesserung zu gestern: mehr Ablenkung von meinen Problemen. Habe mich in der Gruppe sehr zurückgenommen. Fühlt sich ganz gut an, einfach zu schweigen, eine neue Erfahrung…
Mittagessen war beschissen. Tortellini-Berg mit sahniger Sauce und Champignons. Ich kaue Kohlenhydrate in komprimierter und extrem stopfender Form. Danach: Magenschmerzen. Bewegungsdrang nachgegeben – ich bin wieder im Garten auf und ab gelaufen. Schlechtes Gewissen, zu Recht. Außerdem habe ich beim Fernsehen Beine heben und senken gespielt… Mein Bauch wächst und wölbt und dehnt sich, und ich kann nichts dagegen machen. Machtlos. Ich hasse das Essen. Ich hasse meinen Körper. Heute habe ich mir gefühlte 6 Mal eine neue Frisur gemacht, was nicht geholfen hat – ich finde mich nicht schön. Ich mag mein Spiegelbild nicht. Mein Körpergefühl sagt mir, dass die Zunahme dieses Mal nicht so glimpflich verlaufen ist… Angst vor Freitag!
Immerhin, ich muss meinen Schnitt verbessern, damit ich in zwei Wochen mit Papa wegfahren darf. Das tröstet oder vertröstet, ja. Einerseits und andererseits.
Mit Mama zu telefonieren war schön, auch wenn es nur kurz war. Und der Abend unten mit Stella, Melisa und Franziska war auch ganz nett. Ich muss mich eben ablenken. Mich setzen. Durchatmen. Kontrolle abgeben.

16.9.2010
Körpergefühl wird immer schlechter, Stimmung ebenfalls.
In Kunsttherapie die Frage – was ist meine größte Stärke? Das was ich am besten kann?
Ich kann lieben. Ein flammend rotes Herz.

17.09.2010
Ich habe natürlich vor dem Wiegen nicht auf die Toilette gehen können. 44,9. Die Fünfundvierzig macht mir Angst, das ist eine von den imaginären Grenzen… Na gut, wenn ich das Wasser abziehe, das sich in meinen Fesseln staut, plus meinem Darminhalt, ist es real weniger.
Dreihundert Gramm. „Das passt“, sagt Frau Franke. Passt? Wie eine Konfektionsgröße?
Mir passt gar nichts. Mein Körper ist zu viel. In meiner Kleidung wirke ich massig. Nein, ich BIN massig. Ich nehme Raum ein. Ich bin ein träger Körper, ich bin faul, ich bin fett. Ich hasse mich.
Gruppe hat heute gar nichts gebracht.
Horror im Spiegel: meine Oberarme sind schwabbelig und fett. Ich kann sie nicht mehr mit den Fingern umschließen wie vor drei Wochen in KBT.
Mit Natascha längeres Gespräch über das Leben gehabt. Eben noch mit Stella und Melisa über die Krankheit gesprochen.
Fühle mich schlecht.

Dienstag, 29. Januar 2013

Optisch.

Alle Bilder sind in den letzten zwei Monaten entstanden... Meine Beine!
Wie viel doch ein paar Kilogramm ausmachen können.
Oder wie seht ihr das?





59



63,8
63,5
62




58

Schreibblockade.


Kann im Moment nicht richtig schreiben.
Trennung, Sex, Alkohol, Sex ohne Einverständnis, Hass, Schläge in sein Gesicht, 59 kg, Erpressung, Liebe.
Zwei Kometen die ineinander rasen und schwarze Löcher hinterlassen. Verglühen und zu kosmischem Staub werden.
Kein Leben.
Keine Identität.
Kein Schutz.

Ich lese "Die Glasglocke" von Sylvia Plath und verrecke.


und Du


Ich



und meine Gewalt.


Donnerstag, 17. Januar 2013

"Natürlich siehst du mit 58 Kilo besser aus als mit 62, aber viel weniger sollte es nicht werden", sagte mein Freund.

Noch ein Nachtrag:

Wundersamerweise hatte ich vor drei Tagen einen Traum, in dem ich kotzte. Ja, richtig: einfach nur über einer Kloschüssel hing und alles ausspie. Zuvor hatte ich im Traum zehn Kinder-Riegel gefressen. Noch im Halbschlaf, ein wenig verwundert darüber, dass es funktionierte, stolperte ich auf die Waage. 58 kg. Meine Füße trugen mich in die Küche, ich stellte Kaffee auf und meine Hände suchten sich die Milka-Schoko-Eier zusammen, die auf dem Küchenboden lagen. Knisterndes Alupapier, kurzes Kauen, Schluck. Es folgten ein paar Tafeln Schokolade, Toast und alles, was ich sonst noch so fand.
Warum?
Keine Ahnung. Es war dieser Traum, aus dem ich noch nicht herausgefunden hatte. Oder der Satz von T. am Abend zuvor (siehe Überschrift), welcher, ganz klar, als Kompliment gemeint war. Yeah. Danke auch.
Natürlich kann ich nicht Kotzen. Ergo werde ich fetter und fetter. Gewicht gestern Abend: 61,8 kg. Schuss in den Kopf und schön ausbluten.

Meine Therapeutin sagte heute Nachmittag, wir befänden uns in einem sich schneller drehenden Kinderkarussel. Also T. und ich. Wenn ich es nicht schaffte, das Gefährt zu verlangsamen, die Faktoren zu verändern (ihn alleine lassen, keinen Schnaps mehr für ihn kaufen, ect), würden wir beide nicht mehr herauskommen.
Er hielte mich von allem ab (Abitur, Selbstwertgefühl, Autonomie) und ich könnte ihn nicht heilen. Ich müsse die Veränderung anstoßen, indem ich vom Karrussell spränge.

Verzweifelnd genug.

Ein Psychoanalytiker über Essen als Wut- Liebes- und Mutterobjekt.

Abschnitte, die von Erbrechen und dessen Bedeutung im psychologischen Kontekt handeln, habe ich rausgekürzt, weil sie mich nicht betreffen und der Text auch so schon lang genug ist... Falls jemand den vollen Wortlaut des Artikels lesen möchte - unten gibt es einen Link.
Mich interessiert, was ihr darüber denkt...


"Zu Eßanfällen kommt es, wenn die Patienten alleine sind, wenn kein Aufpasser zugegen ist. Ein Eßanfall ist ein einsames, hinter schamhafter Heimlichkeit verborgenes Symptom. Der Verlust der Impulskontrolle bei fehlender Aufsicht deutet in eine andere, nicht konsumbedingte Richtung: Es stimmt etwas mit der Kontrollfunktion bei den Patienten nicht, bei Patienten, die in anderen Situationen durchaus kontrolliert, oft überkontrolliert, auftreten, z.B. bei der Überwachung des Körpergewichtes.
Ist man nicht bereit, diese klinischen Phänomene zu vernachlässigen, stellt sich die Frage, was es mit dem "geheimnisumwitterten" Symptom, wie es in der Fachliteratur gelegentlich genannt wird, auf sich hat.
Ohne Zweifel sind die Eßanfälle (...) von eminenter psychodynamischer Bedeutung für die Patienten. Das pathologische Essen erfüllt eine Reihe von Funktionen, die das prekäre psychische Gleichgewicht stabilisieren sollen. Von daher gibt es Bedenken, den therapeutischen Hebel gleich zu Beginn an der Ventilfunktion des Essens anzusetzen, weil die Gefahr der Dekompensation droht, die zur Verschlimmerung des Gesamtzustandes führen könnte.
Das Eßsymptom ist das Ergebnis einer Verschiebung. Alle jene Affekte und Wünsche, die die Kranken in einer Beziehung zu einer anderen Person auszuleben nicht wagen, werden ersatzweise an und mit dem Nahrungsmittel ausgelebt.
Zunächst wird die Nahrung idealisiert, wie den Phantasien zu entnehmen ist, die die Patienten haben, wenn sie ihre Eßanfälle planen. Bald darauf tritt zwangsläufig Enttäuschung ein, weil die Nahrung die Erwartungen nicht erfüllt. Ab diesem Moment wird aus dem normalen Essen eine Eßattacke, in der die Nahrung wütend zerstört und (...) entwertet wird.
Der Umgang mit dem Liebesobjekt erfolgt auf ähnliche Weise. In der Phase der Verliebtheit wird es idealisiert, man hat es zum Fressen gern und es wird mit hohen Erwartungen befrachtet. Keine Person kann indes auf Dauer die an sie gerichteten Erwartungen erfüllen, so daß die Patienten wütend werden und sich trennen. Der "Scheißtyp" landet in der Toilette. Die auffällige Äquivalenz im Umgang mit der Nahrung und mit Personen legt die Interpretation nahe, die "Freßattacke" sei eine Ersatzattacke und richte sich gegen eine Person, unbewußt gegen ein Muttersurrogat. Eine personengerichtete Attacke würde jedoch Schuldgefühle machen, weshalb auf die Nahrung ausgewichen werden muß. Die Schuldgefühle bleiben jedoch trotz Verschiebung erhalten, und die Eßanfälle müssen wegen ihrer unbewußten aggressiven Bedeutung verheimlicht werden. Dem entspricht, daß die Kranken dazu tendieren, aggressive Auseinandersetzungen bzw. Differenzen zu vermeiden. Die Enttäuschung und die resultierende Wut, die den Eßattacken zugrunde liegen, ähneln den Tobsuchts- bzw. Jähzornsanfällen in der Kindheit dieser Patienten, allesamt extreme Affektsituationen. Der Eßanfall zeigt noch etwas von dem Trotz, wenn "verbotene" Lebensmittel verschlungen werden, der häufig rituelle Charakter der Anfälle hingegen, daß der Affektansturm unter Kontrolle gebracht werden soll.
Die Eßstörung entpuppt sich als Beziehungsstörung. Das Eßsymptom ist Ausdruck einer inzwischen als gesichert geltenden sozialen Phobie, die bereits in der Kindheit diagnostiziert werden kann, also lange vor Ausbruch der Eßsymptomatik. Die der Phobie eigentümliche Verschiebung, hier von einer Person auf das Lebensmittel, zeigt auch die Nähe der Erkrankung zum Fetischismus.
Freßanfälle beinhalten immer einen Kontrollverlust, der als Niederlage im Kampf gegen das Muttersurrogat empfunden wird und für den die Patienten sich schämen. Solche Kontrollverluste werden stets antizipiert, was zur Vermeidung von Situationen führt, in denen Scham droht. Auch hierin ist die soziale Phobie begründet.
Neben der Funktion, aggressive Affekte ersatzweise im Eßanfall zu erledigen - die Ventilfunktion des Symptoms -, erfüllt das Symptom noch eine weitere Aufgabe: es dient keineswegs der Sättigung, sondern der Verdauung von un(v)erträglichen Affekten. Über das Essen wollen die Patienten sich leer machen, sich von als zu intensiv empfundenen Gefühlen und Erlebnissen, von Wut, Neid, von Scham, Schuldgefühlen, aber auch von Liebesgefühlen, Sehnsucht und Dankbarkeit, erleichtern.
(...)
Die Phantasien der Patienten zeigen indes, daß dem Wunsch nach Attraktivität für den Mann bzw. nach Erfüllung männlicher Vorstellungen noch ein anderes Motiv zugrunde liegt: Angst.
Die Kranken versuchen, über die attraktive Schlankheit den Vater als Komplizen im Kampf gegen die als gefährlich erlebte Mutter, der sie sich ohnmächtig ausgeliefert fühlen, zu gewinnen. Ihre Sexualität zeigt solche unbewußten Motive: der Akt als Exorzismusd, bei dem die böse innere Mutter ausgetrieben werden soll. Schlankheit steht im Dienst des Schutzes vor der Mutter und ist für diese Patienten von existentieller Bedeutung. Deshalb sind sie stets in alarmiertem Zustand, was ihr Gewicht anbetrifft.
Symptomorientierte therapeutische Verfahren, die am Eßverhalten ansetzen, seien es ernährungsphysiologische Maßnahmen, Eßtagebücher, Kalorienlisten etc., dürften diese unbewußten Schichten des Symptoms kaum erreichen. Gleichwohl sind sie nicht ohne Effekt, denn sie bedeuten Zuwendung und Impulskontrolle, allerdings auch Einübung in wünschenswertes, tugendhaftes, vorbildhaftes und manierliches Essen, in domestizierte Aggressionsabfuhr, wozu Mädchen schon immer angehalten wurden. Das ist eines der Probleme bei der Behandlung dieser Patienten.
Das Eßverhalten der Patienten sowie der epidemieartige Anstieg der Erkrankung verführen dazu, zur Erklärung die Konsumorientierung, den Überfluß an verfügbarer Nahrung und das kollektive Eßverhalten in den westlichen, hochtechnisierten Gesellschaftssystemen heranzuziehen. Der erste Augenschein legt das nahe und mag auch durchaus für die Modeerkrankten gelten. Zweifellos begünstigt die Griffnähe der Nahrung ihren Mißbrauch, und die Modediagnose "Eßstörung" dürfte für viele eine Einladung zum großen Fressen sein. Bei den genuinen Erkrankungen jedoch stoßen solche Erklärungsmuster alsbald auf Hindernisse.
Die Versuche, die Erkrankung auf ihrem gesellschaftlichen Hintergrund zu verankern, bewegen sich auf der Ebene einfacher Parallelisierungen oder punktueller Assoziationen, die über das Niveau plakativer Vergleiche von objektiven und subjektiven Strukturen nicht hinauskommen. Bislang gibt es keine Untersuchungen, die die Zusammenhänge hinreichend befriedigend hätten darstellen können. Zwar liegen theoretische Konzepte vor, diese Vermittlungsschritte zu erfassen, aber sie haben noch keine konkrete Anwendung auf die klinischen Bilder der Eßstörungen gefunden.
Die über die Sozialisation erfolgenden frühen Internalisierungsprozesse, die zur Bildung der Selbststruktur führen, sind schwer zu untersuchen, und die spätere Assimilation der Außenwelt an diese bereits existierende Selbststruktur ist außerordentlich komplex und erfährt eine Reihe von je individuellen Brechungen, die eine einfache Parallelisierung verbieten.
Ohne Zweifel haben wir es bei den Eßstörungen weder mit einem nur psychologischen noch einem nur politischen Problem zu tun, aber die Schnittstellen zur Gesellschaft sind andernorts als im Konsum zu suchen.
Eine solche Brechung stellt z.B. die Heimlichkeit dar, zentrales Merkmal dieser Erkrankungen. Sie liegt quer zum legitimierten öffentlichen Konsum. Büchertische biegen sich unter Stapeln von Kochbüchern, und allenthalben werden Kontrollverluste und das Intimste hemmungslos ausgebreitet. Man könnte jedoch in dem der Erkrankung inhärenten hohen moralischen Impetus eine Anklage an die öffentliche Abwesenheit von Scham erkennen.
Aber die schamhaft verborgenen Phantasien jener Patienten, die uns Zugang zu den tieferen Schichten der Eßstörung erlauben, zeigen, dass die Erkrankung eine gänzlich andere Funktion als die der Befriedigung von Konsumbedürfnissen hat. Und Phantasien setzen den Forschungsbemühungen ohnehin Grenzen.
Phantasien erlauben es nicht, die komplexen Vermittlungsschritte und Rückkoppelungsmechanismen der elterlichen Praxis, über die einsozialisiert wird, zurückzuverfolgen. Die Verschränkung von subjektivem und objektivem Faktor ist auf dieser Ebene nicht mehr entzifferbar. Sowenig in der Behandlung Originalereignisse aus der Lebensgeschichte ausfindig gemacht werden können, können wir in den Phantasien gesellschaftliche Originalfakten, also Wirkfaktoren, ausfindig machen. Hier liegen die Begrenzungen im Gegenstand.
(...)
Eßstörungen gibt es überdies auch bei anderen Krankheitsbildern wie der Depression oder der Angst. Man könnte also ebensogut von einem epidemischen Anwachsen der Angststörungen oder Depressionen sprechen. Die Überbewertung des Eßverhaltens wäre vom Tisch, zumal auch für die Patienten das Lebensmittel als solches ohne Bedeutung ist. Schon die manifeste Ebene des Symptoms zeigt, daß es nicht ums Essen geht, wie die Magersüchtige vorführt: Sie weist die Nahrung verächtlich von sich. (...) Lebensmittel sind für Eßgestörte keine hochbesetzten Konsumgüter, die liebevoll zubereitet würden, um dann hingebungsvoll in einer kalorienreichen Lieblingsmahlzeit zu versinken. Lebensmittel imponieren einzig durch schnelle Verfügbarkeit und eignen sich damit ohne Widerständigkeit zum Objekt der Wutabfuhr. Überdies ist das Objekt der Wut austauschbar, was deutlich wird, wenn die Patienten am Essen gehindert werden. Sie greifen dann zu anderen Objekten, an denen sie ihre Wut abhandeln, wenn es sein muß zum eigenen Körper, an welchem sie knabbern und herumschneiden. Nicht umsonst wollen die symptomorientierten therapeutischen Ansätze mehr oder weniger ausgesprochen wegen der Mißachtung der Nahrung gerade größere Aufmerksamkeit für die Nahrung erzielen, damit die Patienten sie libidinös besetzen können.
(...)

Die Konzentration auf das gestörte Essen und damit auf das aktuelle gesellschaftliche Eßverhalten kann leicht den Blick dafür trüben, daß es sich bei den Eßstörungen um eine transgenerationelle Erkrankung handelt. Das bedeutet, die Forschungen müssen bis in die Großelterngeneration, also von der Gegenwart bis in die unmittelbare Nachkriegszeit, ausgedehnt werden. Dabei gilt es, die Rolle des Kindes in der Gesellschaft im Auge zu behalten.
Selbstrepräsentanz und Phantasien der Patienten weisen nämlich in eine ganz bestimmte Richtung: Sie empfanden sich durchweg als ekelhafte, schmutzige, lästige Kinder, die ihre Eltern nur störten und ihnen Schwierigkeiten machten, weil sie deren Interessen und Bedürfnissen im Wege standen. Als Erwachsene sind sie ängstlich darauf bedacht, anderen nicht zur Last zu fallen. Der lästige Teil wird abgespalten, in der Heimlichkeit über das Symptom ausgelebt oder/und auf den Körper projiziert. Der Körper übernimmt in diesem Falle die Rolle des "lästigen Kindes" und wird von den Patienten fortan auch so erlebt. Er stört, weil er sich mit seinen Bedürfnissen, seinen Regeln (der "Regel") quer stellt. Die Patienten behandeln ihren Körper demzufolge ähnlich unwirsch und verärgert, wie sie selbst einst von den Eltern behandelt wurden. Dazu paßt, dass die Eßgestörten gemeinhin als schwierige Patienten gelten. Sie bereiten behandlungstechnische Probleme, "erbrechen" immer wieder das Erarbeitete und verbreiten bei Therapeuten das Gefühl eines therapeutischen Nihilismus.
Nur unter großem Ächzen läßt sich die Selbstrepräsentanz "lästiges Kind" mit der Konsumgesellschaft erklären, zumal sie nicht nur die der Indexpatienten ist, sondern schon die ihrer Eltern war und sich bis in die Großelterngeneration zurückverfolgen läßt. Diese Selbstrepräsentanz wird von den Eltern über deren Instrumentalisierung des Kindes tradiert. Hier dürften die eigentlichen sozio-kulturellen Wirkkomponenten zu finden sein.
Verschiedene therapeutische Richtungen haben sich die Unabhängigkeit des Patienten zum Behandlungsziel gesetzt. Fraglos haben die Patienten außerordentliche Probleme mit der Abhängigkeit. Dabei gilt es allerdings zu bedenken, daß diese Patienten bereits von Kindesbeinen an jeder Abhängigkeit mit Unabhängigkeit gegenzusteuern versuchten. Insbesondere die Magersucht, aber auch die Bulimie führt eine Unabhängigkeit vor, für die sogar der Tod riskiert wird. Es handelt sich um eine Pseudounabhängigkeit, die nur als pathologische Unabhängigkeit bezeichnet werden kann.
Wäre das Therapieziel die Unabhängigkeit des Patienten, bestünde die Gefahr, daß diese Pathologie nur noch begünstigt würde. Sinnvoller wäre es, die Fähigkeit zu fördern, natürliche Abhängigkeiten, wie sie der Körper z.B. auferlegt, angstfreier und ohne Kränkung ertragen zu können. Andernfalls würde die Behandlung fatalerweise exakt jenes pädagogische Klima reproduzieren, in welchem die Patienten aufgewachsen sind: "Sei selbständig, aber esse, was ich für richtig halte" oder allgemeiner: "Mach das selbst, aber nur so, wie ich es will und gebrauchen kann".
Es gilt als gesichert, daß Eßgestörte von beiden Elternteilen auf je unterschiedliche Weise instrumentalisiert wurden. Dort, wo sie nicht funktionabel waren, wurden sie von ihnen als lästig empfunden oder ignoriert, weshalb die Patienten ihr Elternhaus als latent feindselig erlebten. Als Kinder flüchteten sie sich in eine vorzeitige, forcierte pathologische Autonomie - Symptom des lästigen Kindes -, damit sie den Eltern nicht länger zur Last fielen. Allerdings bildeten sie in ihrer Kindheit vielfältige andere Symptome, in denen ihre Wut über die Instrumentalisierung, die forcierte Autonomie und die elterliche Ignoranz ihrer Bedürfnisse zum Ausdruck kam. (...)  Hier liegt der Grund, weswegen die Patienten bereits als Kinder eine soziale Phobie entwickelten und als Erwachsene mit der Scham über Kontrollverluste so große Problem haben, so daß sie in die Heimlichkeit ausweichen müssen.
Die Frage, wie in der Gesellschaft aggressive Themen verhandelt werden, deutet auf die eigentliche Schnittstelle zwischen Eßstörungen und Gesellschaft. In den Phantasien nämlich lagert, schamhaft verborgen, hochbrisantes aggressives Material: Szenen der Beschämung und der Rache, Straf- und Mordszenen, Szenen der Gewalt (...). Diese Phantasiewelt erfordert so viel Gegenbesetzung, sichtbar am Ruminieren über das Essen, daß sie sich wegen des hohen Aufwandes an Verdrängungsenergien psychoökonomisch schnell von den alltäglichen emotionalen Anforderungen überfordert fühlen und die psychische Verdauungsarbeit von Erlebnissen und Affekten nicht mehr leisten können.
Die beeinträchtigte Impulskontrolle hängt mit der Notwendigkeit zur Gegenbesetzung zusammen. Das geschwächte Ich bedarf des Hilfs-Ichs, eines Aufpassers, der am Tisch die Impulskontrolle übernimmt. Oder familial ausgedrückt: Das Kind bedarf des Vaters, um vor seinen Affekten gegen die Mutter geschützt zu sein. Hier scheitern die Eßgestörten."

Quelle: Psychoanalyse Aktuell: November 2006
Autor: Thomas Ettl, Dr. phil., Diplom-Psychologe, niedergelassener Psychoanalytiker in Frankfurt
Vollständiger Artikel unter:  http://www.psychoanalyse-aktuell.de/therapie/ess-stoerungen.html

Sonntag, 13. Januar 2013

Ich packe meinen Koffer und nehme mit...



...immerhin bin ich unter 60 kg gekommen!
Ich ernähre mich seit ca einer Woche (mit zwei Ausnahmen - Pizza und Schokoweihnachtsmann an einem Abend) von Kaffee mit fettarmer Milch, Almased und Gemüse, wobei der Kaffee den größten Anteil ausmacht.
Fühle mich leichter und ruhiger. Zielsetzung: unter 55 kg kommen.
Es ist unbegreiflich für mich, wie er es schaffen soll. In seinem Kopf gibt es nur noch den Tod, Angst, Sex und Ethanol.
Und in meinem? Schauen wir mal hinein.
Ich packe den Inhalt meines Geistes in meine Sporttasche und nehme mit: Körper, Knochen, Kalorien. Dann natürlich Musik (siehe unten). Das Fernsehprogramm. Angst vor der Zukunft, vor T., vor meinem Hunger, vor Sex.
Mehr passt gar nicht rein.





Abby - Streets



Placebo - Come Home









Mittwoch, 9. Januar 2013

Where Are We Now?

Getaggt von Ally! Herzlichen Dank und ja, da schleicht sich ein müdes Lächeln auf mein Gesicht...

1. Ich liebe das "Ungarische Selbstmordlied" Gloomy Sunday, vor allem in der Version von Björk.
2. Seit ca. drei Stunden sind meine Haare wieder getönt in "Blütenhonig" von Casting Creme Gloss oder wie der Spaß heißt.
3. Im Moment nehme ich L-Thyroxin, Venlafaxin und Valdoxan
4. In meiner Handtasche befinden sich eine Dose Almased, ein blauer Vibrator und der aktuelle SPIEGEL.
5. Als Kind hieß Fanta bei mir Elefanta, mein Vater prägte dann den Ausdruck "Elefantenpipi". Ich liebe den Geschmack immer noch.
6. Regelmäßig hören T. und ich uns alte Live-Aid-Konzerte oder Woodstock an.
7. In meinem Bett liegen Bücher (Der Hals der Giraffe, The Green Mile, 1913, Splitterfasernackt), Kissen und erkaltete Wärmflaschen en masse.
8. Tumblr ist mein heimliches Laster in punkto sinnloser Zeitvertreib.
9. Mein Tabakkonsum beläuft sich aktuell auf etwa 30 Zigaretten / Tag.
10. Meine kleine Schwester ist cooler als ich, vor allem hat sie dreimal so lange Haare.
11. Was ich mir vorstellen könnte, irgendwann einmal zu studieren: Sozialökonomie, Anglistik, Vergleichende Kulturwissenschaften, Jura, Philosophie, Geschichte des 20. Jhrd., Psychologie, Literatur, ect. pp.


Edit:
Darf ich diesen Mann heiraten oder hat jemand etwas dagegen? Ich zerfließe vor Ehrfurcht angesichts dieser Poesie und Zerbrechlichkeit und Melancholie auf dem Schreibtischstuhl meiner Mutter zu einer undefinierbaren, herzförmigen Masse. Es lebe Bowie! Es lebe Kitsch und Glam und die Kunst!















Montag, 7. Januar 2013

Radio Off.

Ich kann gar nicht anfangen, weil ich nicht weiß ob ich die Kraft oder Ausdauer habe alles zu erzählen, was passiert ist.
Ich nehme jetzt neue Antidepressiva (zusätzlich zu den alten) plus Schilddrüsentabletten und kann sagen, dass es mir besser geht. Irgendwo.
Vielleicht bin ich auch nur gleichgültiger oder abgebrühter, so abgebrüht wie ich war, als ich mir Donnerstagnacht die Pulsader auf- und die Sehnen angeschnitten habe.
Was passiert dann mit diesem Wrack von Mensch? Man näht es zu, schickt es über Nacht in die Psychiatrie (flankiert von furchtbar arroganten Jung-Polizisten). Dann lässt man es ziehen, damit es sich am ganzen Leib vor Erregung und Lebendigkeit zitternd wieder hineinwerfen kann in dieses "Leben":
T. beendete die Beziehung noch am Tag der Entlassung. Die folgenden Tage verbrachte ich (das Wrack, das Leben, die Naht) ohne Nahrungsaufnahme bei ihm und hoffte, er würde die Flasche Vodka absetzen, was nicht geschah. Gestern Nacht dann: "Natürlich will ich mit dir zusammen sein".
Es ist so merkwürdig leise in meinem Kopf. Hin und wieder höre ich Gesprächsfetzten von Donnerstagnacht ("Schwanz, Schwänze, Fotze, Hass, Ekel, Schwanz, Hass, bring' dich doch um!"), ein wenig verrauscht wie bei einem schlecht eingestellten Radio, Flackern und Stille.
Ich weiß, dass etwas passieren muss hier. Und nein, damit meine ich nicht, dass ich weiter hungern sollte oder mich von T. trennen oder irgendetwas derartiges.
Möglicherweise finde ich ob der friedlichen Stille oberhalb meiner Schultern endlich die Kraft, wirklich etwas zu verändern.
Aber nicht heute ---