Von links und rechts dröhnt Musik auf mich ein, strömt durch beide Gehörgänge und trifft sich in der Mitte meines Gehirns, so fühlt es sich an. So laut, dass meine Schritte und meine visuellen Wahrnehmungen wie ein Film wirken.
Editors in den Ohren und riesige Schatten auf den Straßen: mein privater film noir im Kopfkino, Spätvorstellung.Ich komme von einem kleinen, aber feinen Konzert in der Kneipe meines Stiefvaters. Nachdem er ein Saxofonsolo für die Lindenberg-Cover-Band gespielt hatte, wurde es mir zu viel und ich machte mich auf den Rückweg. Zu viel "Familie". Meine Schwester und meine Mutter hinter dem Tresen, die Bier ausschenken, überall alte "Bekannte" meiner Eltern. Und Phoebe, die eigentlich gar nicht weiß, wo sie ist.
Auf dem Heimweg, unter der charmanten Regie meines Groß- oder Stammhirns (das ist mir ziemlich wayne, um ehrlich zu sein), kamen natürlich die folgenden Assoziationen hoch:
1. Heimweg, Regen, goldenes Licht: Die Zeit nach der ersten Klinik, als ich abends unter einem Vorwand ("Ich hole noch mal zur Sicherheit einen Liter Milch aus der Kneipe, Tschüssi") die Wohnung verließ um einfach nur durch die Nacht zu laufen und dabei (einfach nur) ein paar zusatzliche Kalorien zu verbrennen. Ich war nahezu zwanghaft was das Laufen angeht, nach der Klinik fast noch extremer als zuvor. Ich sammelte Kilometer wie andere Flugmeilen.
2. Editors: Das Lied "Camera" habe ich in der Inneren Medizin den ganzen Tag gehört. Ich stöpselte mir die Stecker in die Ohren und schlurfte in Ballerinas und mit einem gewaltigen Infusionsständer zum Aufzug, die ersten Takte untermalten stets das Sich-Öffnen der Türen und meinen Weg in den Raucherbereich. Der Pförtner zwinkerte mir zu, der Infusionsbeutel wackelte bei meiner scharfen Rechtskurve. Die anderen Patienten lächelten mir freundlich zu, es war Juni und die schönsten Wochen meines Lebens. Meine Shorts schlabberten um meine Giraffenbaby-Beine, meine Haare waren zu einem unordentlichen Dutt verknäult und ich fröstelte leicht in der prallen Beton-Sonne auf den weißen Plastikstühlen, während ich eine Kippe nach der anderen rauchte und die ZEIT endlich von vorne bis hinten lesen konnte. Ich freute mich wie Bolle auf die jeweils nächste Mahlzeit, die Besuche von T. und das Erscheinen des neuen SPIEGEL. "Look at us - Through the lens of a camera - Does it remove - All of our pain?" sang Tom Smith und ich versuchte es.
Ich betrachtete mich, uns. Von ganz weit weg, von oben, aus der Sicht eines Menschen der mein Bild in ein paar Jahren betrachten sollte. Und ich war mir so verdammt sicher, dass der Schmerz hier, in diesem Krankenhaus, in diesem verfickten Sommer, aufhören würde.
3. Ebenfalls Editors: Der Grund, weshalb der Schmerz hier nicht gelindert, sondern verschlimmert werden würde. Die Psychosomatische Station, meine Affäre mit R., Fressanfälle, 20 kg Gewichtszunahme.
R., der einzige Mensch den ich kannte, der diese Band kannte. R., der mir das Lied "Papillion" für immer verdarb, weil ich es bin, die besungen wird, und "The Boxer", weil er es für mich lebte.
R., 43 Jahre, ehemaliger SPD-Politiker, depressiv, frankophil, Romantiker, Nietsche-Freund, verhinderter "Künstler", Patient mit regressiven Anwandlungen. Ecetera. Ich könnte viel über ihn schreiben und über das, was zwischen uns entstanden ist und wie, aber ich bin mir nicht sicher ob euch Leser das wirklich interessiert. Das, beziehungsweise er, war jedenfalls die zweite Assoziation zu dieser Musik.
Und damit will ich im Grunde nur sagen, wie wundervoll und schmerzhaft zugleich so ein kleiner Abendspaziergang doch sein kann, wenn man aus unerfindlichen Gründen eine Band aus der Wiedergabeliste seines Walkmen wählt, die man sonst guten Grundes überspringt. Und wie schön das Licht unserer Laternen sich auf dem nasskalten Asphalt spiegelt.
Das wollte ich sagen.
Und listen to that man:
"Von links und rechts dröhnt Musik auf mich ein, strömt durch beide Gehörgänge und trifft sich in der Mitte meines Gehirns, so fühlt es sich an. So laut, dass meine Schritte und meine visuellen Wahrnehmungen wie ein Film wirken." Ich muss ehrlich sagen, dass ich die Editors kaum kenne. Ein Song, mehr nicht. Aber jetzt wo ich Camera höre, vom The Cure-Cover ganz zu schweigen.. Wow.
AntwortenLöschenDu hast einen wunderschönen Blog und eine wunderbare Art zu erzählen. Ich kam leider erst jetzt dazu mir "neue Leser" durchzusehen (neu, relativ). Mein eigener Laptop zeigt sie mir nie an - wie gesagt, erst jetzt kam ich dazu... Jedenfalls freue ich mich dir jetzt folgen zu können. Was du hier präsentierst begeistert mich wirklich. <3
"Ich könnte viel über ihn schreiben und über das, was zwischen uns entstanden ist und wie, aber ich bin mir nicht sicher ob euch Leser das wirklich interessiert" - mich interessiert ALLES! Erzähl, schreib so viel du willst, im Moment hänge ich an deinen Lippen und warte immer wieder darauf, dass du Neues postest.
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