Freitag, 23. November 2012

Warum ich es noch will.

Ich kann essen, ohne Kalorien zu zählen, nicht immer, aber in neunzig Prozent der Fälle. Ich kann abends einen Teller Nudeln oder eine Laugenstange essen, hantiere ungeniert mit Butter, Sahne und Olivenöl. Ja, ich liebe den Geschmack von sahnigen Saucen, fette Croissants mit Butter und Pizzen mit viel Mozzarella, und ich kann sie essen, ohne darüber nachzudenken.
Ich esse Schokolade, Taco-Chips und so gut wie alles mit einer großzügigen Schicht Parmesan darauf, weil es einfach besser schmeckt. Abends einen Sahnejoghurt? Klar. Unterwegs einen Donut? Okay. Fernsehen und dabei vier Lebkuchen verdrücken? Ja doch. Mein BMI hält sich stabil zwischen 19 und 21, je nachdem, ob ich viel Appetit habe oder weniger. Wenn ich nicht mag, ernähre ich mich ein paar Tage lang eben nur von Schokomüsli und Kaffee, oder aber ich koche mir eine leckere Gemüsesauce mir viel Öl und Pesto und genieße sie mit Spaghetti.
Ich fühle mich dick, aber ich habe mich auch mit BMI 13 dick gefühlt, was macht das also für einen Unterschied? Ich bin attraktiv für Männer und immer noch schlanker und besser proportioniert als die meisten jungen Frauen, die ich in der Fußgängerzone treffe. Ich friere nicht mehr ständig, esse in einer normalen Geschwindigkeit und keiner glotzt mir auf die knubbeligen Knie, die früher immer wie kleine Todesmale aus meinen Streichholzbeinchen ragten. Ich kann Hosen tragen und sehe nicht aus wie eine Presswurst mit 69 kg (wie vor der Magersucht), sondern wie eine normale, schlanke Frau mit einem normalen, nicht mehr ganz so großem Arsch.
Ich freue mich über Plätzchen und Lebkuchen-Latte bei Starbucks und ich weiß nicht mal, wie viel Fett da drin ist. Mein Kaffee ist nicht mehr schwarz, sondern mit Milch und schmeckt zehn mal besser.
Komplimente, das Gefühl, Brüste zu haben die man in Szene setzen kann, wenn man will. Wenn man mich blöd anguckt in der S-Bahn, dann nur wegen der Schnitte auf meinen Armen und nicht, weil letztere kaum breiter sind als ein Deo-Roller.
Klingt das nicht paradiesisch?
Ja, das klingt es.
Hätte man mir vor ein paar Jahren gesagt, dass ich einmal so unbefangen mit Essen umgehen würde können, hätte ich theatralisch gelacht. Dass ich nicht mehr abwiegen würde, wie viele Nudeln ins Wasser kommen. All das.
Es ist Wahnsinn, dass es geht, und ich weiß nicht mal warum das so ist.
Liegt es an T.? Liegt es an meinem Drang, alles wieder gut zu machen was ich meiner Familie in den „dünnen Jahren“ angetan habe?
Bin ich gereift? Oder gar gesundet?
Nein, leider nein. Ich würde all meine erkämpften Fortschritte, das bessere Körperbewusstsein und die relative Gleichgültigkeit meinem Gewicht gegenüber (solange es in einem gewissen Korridor bleibt) ohne zu zögern hergeben für die verwesende Knochenästhetik des vorpubertären Körpers der Anorexie. Die ständige Angst, das Frieren, das Angestarrt-Werden, das permanente Rattern der Kalorien- und Gewichtszahlen in meinem viel zu großen Kopf willkommen heißen. Sofort. Tout de suite.
Ist das traurig? Was bringt mir die Krankheit außer Leiden und Entbehren?
Es ist nicht schlicht das Dünn-Sein. Es ist der Sinn. Das große, allumfassende Projekt, das Wesen dahinter. Es ist das, was niemand außer mir wahrnimmt.
Andere Menschen erinnern sich an die hungerleidende Phoebe als traurige Karikatur ihrer selbst, als in hundert Schichten Kleidung verhüllten Freak mit glimmender Zigarette im schmalen Mund.
Ich erinnere mich an sie als zartes Wesen einer höheren Gattung. Klingt das krank? Ich meine das so, wie ich es sage. Ich war nicht nur dünn, ich war rein. Ich war fokussiert. Ich war allmächtig.
Ich war meine Essenz. Ich war ruhig und sachlich und ernst, und zugleich fühlte ich etwas in mir, vielleicht war es die Anwesenheit des Todes, ich weiß es nicht, aber es war großartig. Ich sah mehr. Fühlte mehr. Meine Instinkte und Sinneswahrnehmungen waren geschärft wie die eines jagenden Tieres. Es war dieses Flirren im Kopf, dieses Rattern der schnellen Gedanken, dieses archaische Gefühl von Leben. Jeden Moment bewusst zu erfahren. Immer auf der Hut zu sein.
Ich war nicht mehr angreifbar, weil ich erhaben war.
Niemand hätte mich treffen können, weil ich keine Zielscheibe mehr bot.
Der Sinn.
Der Sinn des Lebens oder des Vegetierens?
Kein Plan.
Aber er war da, und mit ihm Pläne und Träume und Sehnsüchte und Kreativität und alle Geschmäcker der Welt, die ich nicht mehr schmecken durfte.
Als ich zunahm, schrumpfte mein Universum wieder zusammen auf dieses klägliche Maß, das jedem zuteil ist, so empfand ich das damals. Als ich Normalgewicht erreichte, versickerten die letzten Zukunftsvisionen und Wünsche, mein letztes Selbstwertgefühl im schlammigen Sumpf der Depression.
Ich halte dieses Gewicht, und es ist gut. Ich bin freier. Aber auch um meine Visionen beraubt. Ich habe keine Ideen mehr, kein Abitur und keine Freunde. Ich mag die Menschen nicht mehr, verstehe sie nicht und vertraue ihnen nicht.
Mein eigenes, das war die Krankheit. Mein Monster. Meine Kraft. Meine Auszeichnung.
Heute lebe ich in den Tag hinein, der so normal und scheiße ist dass es kaum lohnt, morgens aufzustehen.
Marya Hornbacher hat sinngemäß geschrieben, gesund zu sein ist nicht mehr das große Drama, es ist die tägliche Sitcom, lächerlich alltäglich. Es ist kein Epos mit pompösem Orchester und Chören, die Großes versprechen.
Gesund sein ist normal sein, wäre man nicht immer noch krank.
Mit Persönlichkeitsstörungen und Depressionen behaftet, aller Ideale und Ziele beraubt. Angreifbar, verwundbar, wahrnehmbar.
Erwartungen, Verpflichtungen, auf dem Boden sein. Lasagne essen und Kleidergröße 36/38 tragen.
Sich nicht aushalten.
Hungern wollen und es nie durchziehen, weil die Kraft dazu fehlt.
Für das Abi lernen wollen und es nie durchziehen, weil die Motivation dazu fehlt.
Anderen etwas geben wollen und merken, man hat nichts mehr.
Man ist so banal geworden, so weit weg vom Sinn, von der Vision dessen, was man mal werden wollte.
Ich bin das.
Ich bin in so vielen Bereichen wieder so normal geworden, und anstatt mich darüber zu freuen und es zu akzeptieren, kämpfe ich Tag für Tag für die letzten Trümmer der Krankheit. Als würde ich mich weigern, einen zerstörten Zahn ziehen lassen zu wollen, weil er mich an meine „großen Momente“ erinnert.
Ist das nachvollziehbar?
Es gibt sie sehr wohl, die Gründe dafür, dass ich in dieser Zwischendimension feststecke.
Sie wiegen so viel wie ich.

11 Kommentare:

  1. Ich würde gerne behaupten, den Text nicht zu mögen, aber das wäre gelogen. Ich war nie auf einem BMI von 13, aber trotzdem kenne ich das alles nur zu gut.

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  2. der text ist pefekt, genial und dazu auch noch wunderschön geschrieben. the exact reason why i'm battling and fighting again.

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  3. Auf den Punkt. Perfekt.

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  4. absolut verständlich. und wirklich auf den punkt getroffen. genau das denke ich mir tag für tag und tag für tag.
    es ist dieser zwiespalt dieser beiden Welten, es ist genau wie du das schreibst. haargenau. leider.
    es ist so berührend weil es einfach so wahr ist, leider...

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  5. eben grad fand ich dein blog,
    und ich war überwältigt. und bin ich es immer noch.
    deine texte, deine worte, dein schreibstil, deine gefühle zwischen den zeilen vollenden die schönheit deines bloges.
    ich sauge deine texte in mir auf,
    mit voller verständlichkeit,
    nichts ist mir fremd,
    niemals könnte ich dich wegen
    deinen aufgeschriebenen sachen,
    erlebten momenten verurteilen,
    was wäre ich dann für ein mensch?

    dieser text macht mich sprachlos,
    du machst mich sprachlos,
    und deine bilder von dir
    machen mich auch sprachlos
    alles blendet mich
    ich bin benebelt von deinen blog.

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  6. ich weiß nicht, wie ich es anders beschreiben soll; du reißt mich mit. ich fange an zu lesen und kann und möchte nie wieder damit aufhören. es ist unfassbar fesselnd, wie viel gefühl und persönlichkeit in jeder zeile steckt. es ist, als würde ein roman vor mir liegen, eine geschichte mit einer beeindruckenden intimität, die mich einhüllt und nicht loslässt. ich fühle mit.

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  7. Du bist so wunderbar. Deine Worte so treffend, so wahr, so voller Schmerz. Und doch kann man sich ihnen nicht entziehen. Danke das du deine Welt mit uns teilst.

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  8. ach du brauchst dich doch nicht geehrt fühlen
    oder gar bedanken,
    es ist mein empfinden,
    dein blog hat es mir angetan
    und bin unendlich froh
    ihn lesen zu dürfen.

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  9. dein schreibstil ist phantastisch, habe deinen blog gestern nacht entdeckt und wie ein buch gelesen. hast du schonmal darüber nachgedacht dieses talent vielleicht auch beruflich zu nutzen? mach bitte bitte weiter so!
    PS: komme auch aus frankfurt :)

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  10. keine spezialisierte, sondern allgemein für Kinder und Jugendliche.

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  11. gruselig, wie sehr du mir mit diesen zeilen aus der seele sprichst.
    und gleichzeitig wunderschön.

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