Freitag, 2. August 2013

Einmal noch.




Lulu weint mein graues T-Shirt nass und es ist okay. Das Mixtape von T. läuft und ich heule und wüte und raffe Kassenbons und Besteck vom Boden auf, ich warne sie vor dem Fehler, den ich begangen habe. Ich sage, dass der T., den ich vermisse und den ich irgendwo immer liebe, dass dieser T. nicht mehr existiert, sage, dass ich weitergehe, dass ich stark bin, dass sie auch stark sein wird. Dass es richtig ist, wenn sie jemanden küsst, der sie so glücklich macht wie Lennard mich glücklich zu machen vermag.
Mir fällt die letzte Geburtstagskarte von T. in die Hände, eine winzige Prinzessin trohnt auf einem großen Berg Geschenke, Tränen tropfen auf die Pappe: "Alles Gute, xxx, dein T." Darunter ein ungelenk gemaltes Strichmännchen mit einem Pfeil - Phoebe. Alles erzittert, Bilder stürmen auf mich ein. Es ist gut. Es geht mir gut. Ich darf weinen um uns, darf weinen um die Verletzungen, die wir uns zugefügt haben. Um Neil Young und die Eagles, um die alte Matratze auf dem Boden, um grün-glasige Blicke, um den Geschmack von Gin und Wodka und Pepsi Light auf seiner Zunge, um seine Stimme wie sie seine Geschichte preisgibt, seinen Duft, um den BDSM-Sex, um seinen klugen Sohn, um seine Tränen auf meinem nackten Rücken, um unsere dreckige Küche, um taumelnde Nachtspaziergänge durch das FrankfurterVillenviertel, um Träume und ewige Lügen, um Luftschlösser, um unseren Balkon in der Psychiatrie, um die Brandnarben auf seinem linken Oberarm und meine Pulsader-Schnitte, um Woodstock, um Sylvester nackt und stumm mit Rotwein in den Laken, um unsere Sitcoms, unsere hitzigen Diskussionen, um seinen Blick in meinem Gesicht, um alle ersten Male, um die Scham, um den Hass, die Vergötterung, um zwei Jahre. Um meine erste Liebe.
Es tut sehr weh in diesem Moment-
Ich glaube, ich muss trauern, weil ich sonst drohe steckenzubleiben. Wenn ich mit Lulu weine, ist es nur befreiend. Nur richtig.
  Es gibt da einen Menschen, der in mir etwas weckt, von dem ich nie geglaubt hätte, dass ich es noch besitze: Hoffnung. So abgedroschen es klingt: Selbstachtung. Zärtlichkeit. Es gibt diesen Menschen, der ein unspezifisches Flattern und Ziehen in meinem Oberbauch auslöst, wenn er mich mandeläugig anlächelt. Der mir Mut macht und Kraft gibt. Der kein Monster ist.
Ich habe eine Scheißangst, glücklich zu sein, das ist es wohl.
Ich idealisiere den Schmerz, weil er herorischer ist und destruktiv und unberechenbar. Glück ist so trivial. Ist es das wirklich? Glück ist, um sechs Uhr morgens von kitzelnden Sonnenstrahlen geweckt zu werden und meine Hand auf Lennards Bauch zu schieben, Glück ist, wenn er sie im Halbschlaf an sich zieht und drückt und mit geschlossenen Augen lächelt. Glück ist die heilige Dreifaltigkeit aus Morgensex, Zigarette und Kaffee. Glück ist ein Regenguss. Glück ist auch, selig grinsend ein Telefonat mit meiner J. zu beenden. Glück ist wenn Lulu mit tränenverklebten Augen sagt: "Hey, ich fände es schön wenn du nachher rüberkommst und bei mir schläfst. Ich hab dich lieb." Glück ist narzisstisch und selbstlos zugleich, Glück ist Liebe und das Gegenteil von Böse.
Ich weiß dass das alles ich bin. Ich kann lieben. Ich kann das größste Arschloch auf Erden sein, und ich kann es bereuen und versuchen, nie mehr so tief zu fallen.
Ich kann glücklich sein! Und bin es. Hier, jetzt, mit T.s Musik im Hintergrund und all den hässlichen alten Päckchen und all den Erwartungen an die Zukunft, nicht mehr anorektisch dünn, tief verstört und doch lebe ich.

You don't see the bottom from the top, einmal noch, für dich. Let it float on down the stream / And we can cry a little / For a time that could have been / Live it all my love / Live it well my love / Live it long my love.
Tränen getrocknet, Zimmer aufgeräumt, Zweifel beseitigt, Nostalgie aus-gelebt. Weiter...

7 Kommentare:

  1. Eine Passage (Watzlawick - Anleitung zum Unglücklichsein), die mir bei deinem Text sofort eingefallen ist:
    "Es ist höchste Zeit, mit dem jahrtausendealten Ammenmärchen aufzuräumen, wonach Glück, Glücklichkeit und Glücklichsein erstrebenswerte Lebensziele sind. Die Weltliteratur allein schon hätte uns längst mißtrauisch machen sollen. Unglück, Trauer, Tragödie, Katastrophe, Verbrechen, Sünde, Wahn, Gefahr - das ist der Stoff, aus dem die großen Schöpfungen bestehen. Faust I rührt zu Tränen, Faust II zum Gähnen. Machen wir uns nichts vor: Was oder wo wären wir ohne unsere Unglücklichkeit? Wir haben sie BITTER nötig; im wahrsten Sinne dieses Wortes." (Selbstverständlich ist das ganze Buch nur so in Ironie ertrunken)

    Das hier zeigt mal wieder deine Wortgewalt in ihrer ganzen Pracht. Du hast mich gerade sehr berührt.

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  2. Hab gerade ein Kommentar von dir auf nem andren Blog gesehen, wo du Second-Hand-Läden in Plagwitz empfiehlst. Kommst du aus Lpz. oder warst du nur mal als Touri dort.

    Als liebe, Lisa.

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  3. Ich fühle mich geoutet :D aber ab Oktober bin ich weg, das Studium ruft. Das lustige ist eigentlich, vielleicht habe ich dich schon mal gesehen, ohne zu wissen wer du bist :))

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  4. Der Text ist ja mal der absoluter Wahnsinn. Es beschreibt so wundervoll wie man etwas altes vermisst, dass längst nicht mehr da ist und von dem man vielleicht dachte man wäre drüber hinweg gekommen. Ich bin absolut verliebt in den Text, das Lied und muss selbst rotz und wasser heulen

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