Sonntag, 7. Oktober 2012

Schwarze Lunge. / Anfang.

Ich bin Kettenraucherin.
Angefangen habe ich (hat alles) in der Nacht zwischen dem dritten und vierten Februar 2010.  
Meine beste Freundin A. wurde volljährig. Nachdem wir in Frankfurt Cocktails getrunken und überteuerte Enchiladas verspeist hatten, kauften wir mit jugendlichem Übermut ein Päckchen Marlboro. Wir trugen Trenchcoats von Benetton, unsere elegantesten High Heels und fühlten uns wahnsinnig erwachsen und mondän, als wir ein Taxi (Stichwort High Heels) heranwinkten und angetrunken kichernd in ihre Wohnung fuhren.
A. war Waise und lebte mit ihrer Großmutter und einem fetten Kater im vierten Stock eines Plattenbaus. Wir legten Muse auf und ließen die Beine vom Fensterbrett in die Nacht baumeln, tranken Rotwein aus Wassergläsern, philosophierten über den Tod und schmiedeten verrückte Zukunftspläne („Ich werde unfassbar kluge Bücher schreiben und in einer Altbauwohnung mit Stuck an den Decken leben, allein versteht sich, und Affären mit anderen Künstlern haben. Aber es wird mir nichts bedeuten, ich werde sie ausnutzen und in den Wahnsinn treiben. Scheiß Männer, ey!“).
  Das Päckchen Kippen leerte sich zunehmend.
Ich weinte ein bisschen wegen diesem Politik- und Geschichtslehrer, Rouven, wir duzten uns und er hatte mir in den vergangenen Monaten schöne Augen gemacht.
Komplimente, ein Beatles-Ständchen („Honeypie, you are making me crazy, I'm in love but I'm lazy...“), Tenor-Sopran-Flirts in unserem Oberstufen- und Lehrerchor.
Ich muss dazu sagen dass er nicht mein Lehrer war, wir kannten uns nur durch den Chor und die dazugehörige Probenfreizeit (Vivaldi bei der Weihnachtsfeier) im Winter, bei der es heftig geknistert hatte. Ich war 17, wog etwa 67 kg und war als Rosa Luxemburg der Schule in Business-Outfits verschrien, er war 36, Charmeur und Galant, narzisstischer Prediger kapitalismuskritischer Parolen, rhetorisches Genie und der Lehrkörper mit den blauesten Augen der Schule.
Nach den Weihnachtsferien begrüßte er mich, indem er meine Hände in seine nahm und mir tief in die Augen sah.
  Ich war ein bisschen verknallt, gebauchpinselt und naiv, er hatte mich in seinem Auto mitnehmen wollen, wir trafen uns auf dem Schulflur („Na, du siehst gestresst aus, alter Mann!“ - „Hallo schöne Frau! Ach, mein LK bringt mich noch um. Ich habe deine Facharbeit durch, das ist ganz groß, ich bin echt beeindruckt. Nein wirklich.“ - „Danke. Wow.“ - „Ich muss leider... Aber, Phoebe – du riechst wahnsinnig gut. Was ist das?“ - „Chance von Chanel.“ - „Mademoiselle porte Chanel... Au revoir, mignonne!“).
Dann, ganz plötzlich, war es vorbei mit den kleinen Aufmerksamkeiten. Kein Kuchen mehr, den er mir in meiner Freistunde schenkte, keine mehrdeutigen Blickkontakte beim Singen, kein Interesse mehr für meine „beeindruckende“ Facharbeit, mein Parfum, meine Meinung zu diesem oder jenem.
  Ich wusste, dass unser Schul- und Chorleiter ihn auf mich angesprochen hatte.
Was ich nicht wusste, war dass ich nicht die erste Schülerin war, die er mit seinem Charme „beglückt“ und um den Finger gewickelt hatte, das würde ich erst Monate später erfahren.
  A. klopfte mit den Füßen gegen die Hausmauer und berührte tröstend meine Schulter. Matthew Bellamy jaulte und schrie sich die Seele aus dem Leib, und ich machte mir ernsthafte Gedanken über das Erwachsenwerden. „Ich glaube, ich nehme ein paar Kilo ab. Was meinst du? Nur um ihm und all den anderen Wichsern in den Arsch zu treten. Er soll sehen, wie ich immer attraktiver werde und dass er nicht der einzige Mann ist, der mich ansieht.“ 
A. zuckte mit den Schultern. Sie war zehn Zentimeter kleiner als ich, hatte goldfarbene taillenlange Locken und eine perfekte, zierliche Sanduhrfigur. „Das brauchst du nicht. Echt nicht.“ Ich widersprach ihr im Geiste und angelte die letzte Marlboro aus der Schachtel. 
Mein Körper war voller unpassender Rundungen, ich hatte kaum Taille, dafür aber ausladende Hüften, stämmige Arme und einen fetten Arsch. Und schwabbelige, fette Brüste. Das musste dringend einmal generalüberholt werden, wieso kam ich erst jetzt darauf?
Klar, ich liebte Essen.
Ich liebte Schokolade, Chips und das Essen meiner Mutter, ich aß am meisten von meiner ganzen Familie und das schien niemanden zu stören.
Wenn es mir nicht gut ging oder mir langweilig war, stöckelte ich in den 5-min-Pausen mit meinen Stiefeletten zum Automaten und schob in Turbo-Geschwindigkeit eine Tafel Ritter Sport in mich hinein, oder auch ein fettes Nougat-Croissant. Ich konnte anderthalb Pizzen essen plus die Nudelreste von meiner Schwester.
Ich hatte das bisher nie problematisiert. Ich war eine Fressmaschine!
Das ziemt sich nicht für eine Tussi, die eine Lady sein möchte. Immerhin rauchte ich jetzt. Ich betrank mich auf dem Fensterbrett! Ich musste jetzt, verdammt noch mal erwachsen werden. Und erwachsen heißt auch: diszipliniert!
A. und ich sahen uns in jener Nacht noch Fatih Akins „Gegen die Wand“ an, weil wir ohnehin nicht mehr schlafen konnten, ein fetter Kater wärmte meinen Bauch und ich aß meine Henkersmahlzeit (Honigsmacks).
Das war der Anfang von allem.
Mit dunkel umschatteten Augen fragte A. mich, ob ich das ernst meine mit dem Abnehmen, ich bejahte.
„Naja, jedenfalls solltest du dir später Zigaretten kaufen, honey. Du weißt ja das Rauchen beim Abnehmen hilft. Irgendwie wirkt Nikotin auf den Stoffwechsel.“

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