Mittwoch, 10. Oktober 2012

Vulkanologie und Angst.

Beziehungen sind zerbrechlich, instabil, unstet.
Jeden Tag muss ich darum käpfen, sie zu erhalten. Ich flicke und kitte und lüge und verrate und verschweige und gehorche, dass mir nur niemand mehr verloren gehen mag, jeden Tag. Jeden einzelnen, verschissenen Tag.
Seit ich sechs bin, lebe ich in mehr oder weniger ständiger Alarmbereitschaft.
In ständiger Angst.
Ich beobachte und lerne. Ich lerne: niemand braucht dich so sehr wie du ihn brauchst. Niemand braucht dich so sehr wie deine Mutter. Niemand verletzt dich so sehr wie dein Vater.
Es gibt kein Gleichgewicht der Kräfte, der Bedürfnisse.
Es gibt keine Sicherheit.
Jahre später, wenn ich unter paranoid anmutenden Panikattacken leide, werde ich das Gefühl haben, die ganze Welt warnen zu müssen, dass ihre Gebäude, deren Statik, die Elektrizität, alles, die Autos, die Abwasserkanäle unter ihnen, das all das dem Wind nicht stand hält. Ich werde hyperventilieren und wissen: Es gibt keine Rettung. Jemand hat sich verrechnet, verplant. Es ist zu laut hier, die Schallwellen könnten Häuser zum Einsturz bringen. Jedes Hochhaus hat so viele Gasanschlüsse, so viele Wasserleitungen, die platzen können. Jedes Sitzelement im Wohnzimmer muss doch so schwer sein, dass die Mauern unter ihm nachgeben? So viele Menschen, und ich werde sie nicht retten können.
Ich werde keine Todesangst haben, ich werde Angst haben um meine Mutter. Dass sie stirbt.
Im Alter von sechs Jahren bin ich ein stilles, kluges Kind, ein wenig stur und sehr wählerisch. Und ich habe große Angst. Ich werde niemanden halten können, das ahne ich. Wie denn auch?
Als meine Eltern sich trennen, bin ich dreizehn. Ich begreife, dass alles auseinander fällt, mein Vater bedoht uns, er will sich töten. Meine Mutter und meine Schwester weinen und schreien, ich zittere vor Angst und versuche, ihn mit Worten zu beruhigen. Blut strömt aus seiner Nase, er verliert den Verstand, denke ich, und rede munter weiter auf ihn ein.
Nach der Trennung holt er mich und meine Schwester manchmal ab, Essen gehen. Es gießt in Strömen und wir fahren nicht zum Restaurant. Wir fahren Landstraße. Ich sehe den Tachometer und schweige. Mein vater rast schweigend durch das Gewitter, als jage er den Tod. Meine Schwester weint leise. Ich bin vierzehn, Mobbing-Opfer und hochbegabt, und ich bin bereit zu sterben in diesem Scheißauto.
Nichts passiert.
Ich verliere meine Freundinnen an die cooleren Cliquen der Schule, an Jungs und an die Depression.
Ich bin schwach, ohne schwach zu wirken, müde, ohne müde auszusehen, und ich habe Angst.
Ich mache noch eine Therapie, mit siebzehn, verliere die Panikattacken und werde magersüchtig.
Ein Jahr später lerne ich mein antologisches Gegenüber kennen: T.
Er lehrt mich, ohne sich dessen bewusst zu sein: Ein Wort, und alles ist vorbei. Eine Geste, und wir sind tot.
Es fasziniert mich, das Spiel mit dem Risiko. Es ist anstrengend, aber endlich kann ich meine erworbenen Fähigkeiten anwenden: Unterordnung, Betrug, Schlichten, Trösten, Schützen, Retten, subtil Kritik üben, sich Festbeißen.
Ich liebe ihn und bin unfähig, ihn loszulassen.
Er liebt mich und stößt mich von sich, immer wieder in den Abgrund, um dann in der letzten Sekunde halbherzig seine Hand auszustrecken und mich wieder hochzuziehen.
Das endlose Spiel. Er wärmt mich, überschüttet mich mit Komplimenten und Liebe, um dann, ganz unertwartet, wegen einer Lappalie auszurasten und mich zu hassen. Er beendet die Beziehung, schimpft und wütet, schlägt nach mir.
Ich habe mein Handy den ganzen Tag bei mir, weil ich erfahren habe was passieren kann, wenn ich nicht erreichbar bin. Ich setze Worte auf blauen Samt, wenn er hochkocht.
Ich tanze auf dem Vulkan und hole mir Narben und Brandwunden, aber ich möchte mich der Illusion hingeben, ihn zähmen zu können, und dann irgendwann einen so wertvollen Vulkan zu besitzen, sicher zu wissen.

4 Kommentare:

  1. Jaa :D In Würzburg, da studier ich :)

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  2. Ich weiß, dass ich nichts dafür kann. Aber das ist einfach das, was mir vermittelt wird. Und ich gebe mir Mühe, damit irgendwann mal klar zu kommen.
    Es tut mir Leid für dich, dass du auch kein Glück mit deinem Vater hast :(
    Bleib stark Liebes.

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  3. danke!
    aber du hast recht: WIR KÖNNEN ES ALLE!
    nicht nur ich, wir ALLE! ♥

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  4. Ich bewundere deine Fähigkeit, so mitreißend zu schreiben. Deine
    Geschichte erinnert mich einem Maß an meine, dass ich mich eben beim Lesen
    wirklich erschrocken habe und mein Herz immer noch rast.
    Panikattacken, Essstörung, hochbegabt.

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