Mittwoch, 1. Mai 2013

Drehbuch des Vermöglichten.

Lennard liegt hinter mir und umschlingt meinen Körper mit seinem mondfarbenen Unterarm. Durch zwei Unterhemden hindurch spüre ich seinen Bauch in meinem Kreuz, der mit jedem schläfrigen Atemzug zittert und wärmt. Meine Füße berühren die seinen unter der schwarz-weißen Bettdecke, unsere Finger formen eine wohlige Höhle neben meinem Kissen. Mein Kopf produziert elliptische Sätze:
Sicher nicht. Fallen bleiben. Gefundener Hafen. Nacht Glück. Phrasen gelitten. Licht tiefste Schmetterlinge.
Wir schlagen alle paar Stunden die Augen auf, unsere Blicke und Körper treffen sich, entspannte Verbindlichkeiten im Delierium der blauen Stunde. Er legt meine Hand auf seine Brust und ich zähle seine Herzschläge, bis der REM-Schlaf mich fängt.
   Als er mich schließlich entlässt, ist Lennard schon aufgestanden. Ich betrachte das Licht, von seinem grünen Vorhang trüb und diffus auf meinen Armen kitzelnd, und esse meine Tabletten.
Die Wohnung schluckt und gurgelt und knarrt.
Heute ist besser als gestern. Ich verlasse das Schlafzimmer.
Er ist heute agiler und weniger erschlagen, wir wortfechten zärtlich und frühstücken dekadent. Sein Nacken riecht nach Nacht und Sicherheit, ich küsse sein Ohr, während wir mit dem Tablet spielen und unsere Zigaretten die Höhle räuchern. Ich bin unwahrscheinlich fasziniert und berührt von seiner Körperlichkeit, seinen Bewegungen, seiner Gestik, seinem Gang. Er bewegt sich durch Zeit und Raum wie ein Stummfilmschauspieler, mit der beneideswerten Eleganz einer verwöhnten Katze und der unbeholfenen Schlaksigkeit eines zu schnell (er)wachsenden Kindes.
Gestern Abend noch zynisch und nihilistisch, strahlt er heute Tatendrang und Ruhe aus.
   "Heute Misanthrop, morgen Florist des Seins", lächelt er und berührt meine Wange.
Ich dachte immer, ich wäre wechselhaft wie Rimbauds trunkenes Schiff. Tja.
Wir entwickeln alternative Verwendungszwecke für Maos rotes Buch (Geheimversteck für grünes, duftendes Rauschmittel, man könnte es natürlich auch in einem alten BGB horten), hören Yael Naim und Ofrin, verweilen kurz beim Veganismus, bei den Vorteilen eines zweiten Raspberry, suchen ein Massagestudio ohne Happy End (was ein extrem schwieriges Unterfangen ist).
Ich träume von einer Welt, in der Floristen Ärzte-T-Shirts tragen und Palästina ein autonomer Staat sein darf.
Ich träume von leeren Einmachgläsern und Selbstlosigkeit und langen, elektrifizierenden Küssen.
Ich träume von einem Sein in höchster Bildauflösung mit geschärften Sinnen und mündigem Verstand.
Ich träume von einer Zukunft abseits der ausgetretenen Wege, barfuss rennen bis die Schwerkraft mich erlöst und ich fliegen darf.
Ich will nicht alles verstehen müssen, nur können.





Edit: Ich habe der Übersichtlichkeit halber ein "Darstellerverzeichnis" angelegt (siehe rechts).

3 Kommentare:

  1. Deine Texte sind einfach so inspirierend, voller reflektierter Feinheiten! Danke dafür.

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  2. Danke für dein Statement. Das wird mich noch begleiten. Ich möchte dir noch einen Auszug aus dem Nachwort (von Peter von Matt) zu Max Frischs "Antwort aus der Stille" (1937) mit in die Nacht geben:

    "Wenn mein Leben misslingt, ist es von mir vertan worden und von keinem andern. Man kann die Schuld weder der Familie noch der Gesellschaft noch dem Erbgut zuschieben. Auch eine Vorsehung gibt es nicht, die insgeheim alles lenken würde. Jedem Menschen ist sein Leben in die Hand gegeben; er allein lässt es glücken oder scheitern. Das Schicksal ist immer selbstverfertigt. [...]
    Diese Erkenntnis ist von einer grausamen Unerbilltichkeit. Sie unterwirft den EInzelnen einem täglichen Gericht. Die Freiheit der radikalen Selbstverantwortung ist grossartig und terrorisierend zugleich. Antwort aus der Stille ist die Ballade von dem Mann, der das plötzlich begreift und dem der Schrecken ins innerste Herz fährt. Jetzt muss er handeln, auf Tod und Leben."

    Das Nachwort ist aus neuerer Zeit, aber irgendwie kommt es mir so vor, als würde jede Generation die selben Probleme durchmachen, aber geht anders mit ihnen um. Und wir wissen noch nicht genau, wie wir damit umgehen sollen und entscheiden und für alles und doch nichts...?

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  3. Ich danke dir für deine lieben worte :).

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