Wie angekündigt versuche ich jetzt, die (für mich) wichtige "Erkenntnis" aus meiner letzten Therapie am Donnerstag zu rekonstruieren. Mein Kopf ist zwar leer wie ein Fahrradschlauch, aber ich probiere es.
Warum sehne ich mich so nach diesem Zustand anfang letzten Jahres? Meine Therapeutin bat mich, diese Sehnsucht zu beschreiben. Was ist es denn gewesen? Wie kann es gut gewesen sein, wenn es die Phase vor DEN prägenden zwei Monaten in der Psychiatrie zur folge hatte (Suizidversuch, Riesenkrach mit meinen Eltern, Beerdigung meiner geliebten Oma und eines Kumpels, der Selbstmord begangen hat, und dann, ganz plötzlich, T. an meinem Horizont, Verliebtheit, mein erstes Mal,...)?!
Okay. Ich beame mich zurück. Hinter mir liegt mein allererster erste Klinikaufenthalt in Bad Bodenteich, Lüneburger Heide, KLinik für Psychsomatik, explizit für Essstörungen. Ich kämpfte mit mir selbst, mit den Therapeuten, mit den Mitpatientinnen. Es war schrecklich und zugleich bereichernd. Ich machte endlose Spaziergänge durch die Heide, durch kleine Wälder, am See entlangt (der besonders schön glitzerte zwischen Oktober und November, wenn Dunstnebel über dem Wasser stand und die kalte Herbstsonne sich durch den blaugrauen Wolkenhimmel kämpfte). Ich verbrachte meinen Eintritt in die Volljährigkeit mit meiner Familie, wir fuhren nach Lüneburg und ich aß eine Kugel Eis im Hundertwasserbahnhof von Üelzen. Ich fuhr mit zwei Mitpatientinnen nach Hamburg und fühlte mich so eins mit mir wie noch nie. Ich wog knapp 49 Kilo bei der Entlassung, das waren ungefähr 10 kg mehr als bei Einweisung anfang August.
Im Winter 2010 aß ich brav meinen Essplan aus der Klinik, 40%igen Quark und fetten Käse. Ich fuhr ein paar Mal nach Mainz zu einem Verhaltenstherapeuten für Essstörungen. Ich erinnere mich an die unfassbare Kälte des Winters, an die vielen Schichten Kleidung, die ich trug. Daran, dass ich die Stunde Fahrt von Frankfurt nach Mainz in der Bahn stand und Placebo hörte. Ich war krank. Ich war besessen von meinem Gewicht und meinem Körper. Einmal in der Woche fuhr ich zu meinem Kinderarzt und stellte mich dort auf eine ungenaue, steinalte Waage. 48 kg. Ich jubelte innerlich. Ich zelebrierte meine Mahlzeiten wie ein religiöses Ritual. Ich musste um jeden Preis zu einer exakten Uhrzeit essen, die Lebensmittel immer in der gleichen Reihenfolge zu mir nehmen. Jede Mahlzeit musste mindestens eine Dreiviertelstunde dauern.
Ich begann, wahnsinnig viel zu laufen. In der Klinik war Bewegung tabu gewesen, aber jetzt spürte ich den feinen Stich, das Kitzeln, die Stimme die mich aufforderte, zu gehen, einfach nur zu gehen, immer intensiver. Ich gab nach. Ich ging. Im Stechschritt. Eingehüllt in dicke Mäntel und mit zwei paar Handschuhen bewaffnet begann ich im Winter, nach jeder Mahlzeit durch die Gegend zu laufen. Joggen schien mir zu gefährlich, also wurde es ein sehr flottes Gehen über Eisschollen und verfrorenen Boden. Meine Zwischenmahlzeiten wurden kleiner. Ich lief eine Stunde zu einem riesigen Supermarktcenter und verbrachte dort eine weitere Stunde damit, vor dem Kühlregal und bei den Konserven nach geeigneten Mittags- und Zwischenmahlzeiten zu suchen. 47,8 kg. Ich notierte mein Gewicht Woche für Woche in einem schwarzen Notizbuch. Mein Gewicht nüchteren, zu Hause, und mein dummes, falsches Gewicht beim Kinderarzt. Erstellte Graphen, die immer weiter auseinanderdrifteten. 47,5 kg. Kurz vor Weihnachten suchte ich mir eine Schule heraus, um dort das Abi machen zu können. Andere Stadt, andere Schule, neue Chance?
Fest steht, ich wollte noch nicht wirklich. Ich tat es meiner Mutter zu liebe. Nach den Weihnachtsferien ging ich in die Q2, also das zweite Halbjahr der zwölften Klasse, man hatte mich ein Halbjahr überspringen lassen, weil mein Zeugnis so gut war.
Und hier kommt die Phase, nach der ich mich sehne.
Zum ersten Mal in meinem Leben sind die Mitschüler nett. Die Lehrer sind beeindruckend klug und respektvoll. Ich stehe um halb sechs auf, um mein ewig langes Frühstück einnehmen zu können. Das Brötchen mit Quark und Marmelade (zuckerarm) wandele ich in zusätzliche Löffel Marmelade, Quark und Vollkornflocken für mein Müsli um. Brötchen vor der Schule zu essen wäre so kompliziert.
Merkwürdig ist, dass ich eigentlich sehr unglücklich hätte sein müssen vor DER Phase. Aber daran erinnere ich mich kaum.
Ich erinnere mich an das Essen. Ich verwandele - Simsalabin - mein Mittagessen in kleine Zwischenmahlzeiten - Knäckebrot mit fettarmen Aufstrich, das ich liebe, und kleine grüne Apfel. Mein Vollfettquark wird zu 20%igem, der genauso schmneckt, und ich strecke ihn mit Wasser. Die Brote darunter werden kleiner, ich esse mehrere Knäckebrote statt einer Scheibe Vollkornbrot, spare hier und dort ein bisschen Kalorien. Nur ein wenig abnehmen, ich habe so viel Stress. Ein bisschen. 47 kg.
Meine Freistunden und Mittagspausen verbringe ich damit, im fahlen Sonnenlicht des Januar durch Bockenheim zu latschen. Ich erkunde das Viertel, finde heraus, wo ich hinkomme, wenn ich in diese oder jene Himmelsrichtung geradeausgehe. Ich bin scheu und verunsichert den Mitschülern gegenüber, erzähle ien paar Mädchen vorsichtig ein wenig über mich. Im Unterricht bin ich hellwach und aktiv, die Lehrer lieben mich. Ich bin eloquent und ordentlich. Auf meinen Collegeblock klebe ich stilvolle Bilder von stilvollen, ausgehungerten Models aus der Vogue. Ich wiege mich häufiger.
Der Zauber dieser drei Monate ist schwer zu beschreiben und von fragiler Schönheit.
Joy Division hören und mich endlich verstanden fühlen von Ian Curtis tieftrauriger, ausdrucksloser Stimme.
Wie ein Uhrwerk funktionieren und das Ticken im Inneren hören, man ist eine Zeitbombe, ein Zähler ohne Zünder (der Zünder wurde der Suizidversuch).
Immer weiter laufen laufen laufen.
Mich in philosophische Aufsätze vertiefel und dabei schwarzen Kaffe in rauen Mengen in meinen Schlund kippen, ich kam mir wie eine Studentin vor, ein cooles Gefühl. Es ist eine Oberstufenschule, die ich besuche, und alle sind so reif und leistungsorientiert. Ich muss lernen. Lesen. Ich lese Nietzsche, im Stehen, in der Bahn. Nabokov im Bett, die Beine hebend. 46,5 kg. Hey, das war ja ganz leicht. Und keiner merkt etwas.
Sie ist mein, diese Krankheit. Mein Geheimnis, mein Eigen, mein Schatz. (Gollum, Gollum)
Ich terffe J., wir gehen ins Theater zusammen. Ansonsten bin ich sehr einsam. Sehr, sehr einsam.
Ich verkrieche mich immer tiefer in das Geflecht aus Zahlen und Knochen und Luft dazwischen. Luft zwischen den Oberschenkeln, Luft um meine rote Nase, Luft zwischen den Zweigen meines kleinen Nestes.
Denn das ist sie, die Magersucht. Mein Nest. Es ist angenehm kuschelig, obwohl es doch aus scharfen Ziffern, Klingen und Knochen besteht. Es ist heimelig und so weit weg von allem Leben, dass es Schutz bietet. So weit hinaus möchte niemand, niemand wird mir hierher folgen. Niemand folgt mir, wenn ich das alte Schulgebäubde verlasse, um "einen Spaziergang" zu machen. Mein Nest strahlt etwas aus, das anderen Angst zu machen scheint, doch wenn man in seinem Inneren ist, gibt es nichts beängstigendes. Es gibt auch nichts Schönes, außer man steht auf rigide Selbstzerstörung. Es gibt keinen Schmerz, keine Träume, Pläne. Nur den einen - ein bisschen abnehmen. Und dem folgt man. Blind, Ohne zu zögern. Wenn das Nest der einzige Ort ist, an dem man sich sicher fühlt. Wenn der Hunger das einzige ist, das einen tröstet. Wenn man sich zwingt, durch die Kälte zu stapfen, ob wohl es tief im Hinterkopf ein zartes Klagen gibt, man solle besser ein heißes Bad nehmen und sich entspannen. Entspannen? Wozu? Man hat doch noch zu laufen heute. Das Essen zu verbrennen, das dürftige, anorektische, restriktive Essen.
Warum noch mal sehne ich mich nach dieser Zeit? Nach dem Nest?
46 kg. Ich bin dünn. Nicht so dünn, dass ich es gesehen hätte, aber dünn genug, dass ich es zu betonen versuche. Ich trage ausschließlich Strumpfhosen, kombiniert mit kurzen Röcken oder Shorts. Manchmal Skinny Jeans in Größe XS, aber das ist so kompliziert, immerhin wiege ich nicht mehr 40 kg und andere könnten meine Jeansbeine mit ihren Jeansbeinen vergleichen und dann denken - "Aha, das soll Magersucht sein? Ganz schön fett!".
Vielleicht ist das das einzige, wovor mich das Nest nicht schützt - die Blicke und Kommentare der anderen erreichen mich auch dort, hundert Meter über dem Meeresspiegel. Vielleicht sind sie neidisch, dass ich so hoch hinaus gekommen bin, mich allein körperlich so sehr vom "Normalen" entfernt habe. Aber das wage ich nicht zu glauben. Ich sehe Mitschülerinnen, die schlank, zum Teil sogar dünn sind, und hemmungslos Croissants in ihre hübschen Munder stopfen. Die sich zum Raclette verabreden, mich sogar einladen (ich sage, dass es nicht geht, weil das mit derm Essen bei mir ein bisschen kompliziert sei, ich war ja mal magersüchtig und so). Die sich in der Mittagspause einen Kakao gönnen und Schokoriegel knabbern, quatschen und lästern und Hausaufgaben erledigen, während ich wie ein Tiger durch die frostrige Kälte streife, immer auf der Hut, immer in Bewegung, immer rauchend, immer mit einem Tee oder Kaffee in der behandschuhten Hand, immer akkurat geschminkt und frisiert. Mein Gesicht ist noch sehr schmal, und ich entwickle eine Reihe von enganliegenden Flechtfrisuren, die meine Wangenknochen betonen. Ich trage einen alten, übergroßen Männercordmantel in beige, in dem ich noch verlorener und zierlicher aussehe. Ich beineide alle, die normal Essen, so wie ich es bis vor ein paar Monaten selbst getan habe. In der Klinik. Brötchen, knusprige Brötchen. Ein Schokoriegel und ein Stück Obst um drei Uhr. Ich nähere mich der 45 und mein Nest wird immer kleiner, scheint mich zu umschlingen. Ich kann kaum noch über den Rand aus Dezimalzahlen blicken. 45,8 kg, 45,6 kg.
Es ist ein morbider Zauber, ein morbides Glück. Ich esse doch noch sehr viel, dafür, dass ich untergewichtig bin, das freut mich irgendwo. Ich leiste etwas, oh ja. Ich lerne, seht ihr wie ich jeden morgen in die dunkle Umarmung des Morgens entschwinde, bei Minusgraden zur S-Bahn gehe, im Licht der Laternen die Schatten meiner Beine suche? Seht ihr, dass ich Nachhilfeunterricht gebe, dass ich früh schlafen gehe, dass ich so wahnsinnig folgsam um lieb und hilfsbereit bin? Ich bin zwanghaft, das ist die Wahrheit. Es läuft. Ich laufe. Ich laufe in den Tod. ---
Das war mein Frühjahr '11. Es war intensiv und zugleich schemenhaft wie ein Traum. Ich bin wieder in mein Nest geflüchtet, kurz nachdem ich es probeweise verlassen hatte. Hey, Sorry, draußen schien es mir doch ein wenig zu unsicher. Vier Monate Klinik und man ist wieder "da", wieder draußen, wieder im Leben? Oh no. Vier Monate Klinik und eine riesig schwere Elefantenangst, die einen langsam, aber sicher in das vertraute Nest zurückzwingt? Oh yes.
Danach wurde alle umso verwirrender und turbulenter.Vielleicht werde ich das ein anderes Mal beschreiben, für heute sind meine Worte erschöpft. Und jeder Leser, der sich durch dieses Gelabere durchgekämpft hat, sicherlich auch. Wer es schafft bekommt einen virtuellen Orden!
Alles Liebe!
Phoebe.
Wow... Mir fehlen die Worte grad bisschen die Worte. Man kann irgendwie so gut nachvollziehen wie du dich gefühlt hast...
AntwortenLöschenIch wünsch dir ganz viel Kraft die Sache hinter dir lassen zu können!
Ich verstehe, dass du dich nach dieser Zeit sehnst. Nicht nur, weil die Magersucht dir das Gefühl von Sicherheit gibt, weils es deins ist (wenn ich dich da richtig verstanden habe..), sondern.. keine ahnung, ich kann's nachempfinden. Mein Winter 2011 war auch eine Hunger-Zeit, aber ich hab mich so.. geborgen gefühlt, den anderen überlegen, denn während sie in der Mittagspause ihr Fertigzeugs essen, gab es für mich nichts mehr. Durch den glänzenden Schnee zu laufen, schwächlich, noch mehr frierender als die anderen, es war alles ein bisschen wie ein Traum. Und wo ich das so schreibe, vermisse ich diese Zeit auch so sehr. Deshalb weiß ich genau, wie du dich fühlst, glaube ich. Ich weiß zwar nicht, warum es da so eine Sehnsucht gibt, aber ich versteh's.
AntwortenLöschenIch finde, du hast den Text wunderschön geschrieben, wirklich. Würdest du ein Buch daraus machen, ich wäre die erste, die es kauft! *o*
Frage: Wo siehst du dich jetzt? Ich meine, suchst du dein Nest wieder? Näherst du dich ihm?
alles alles liebe,
xx ♥
traurig & beeindruckend zu gleich. ich liebe die art, wie du schreibst. es wirkt sehr authentisch. abgesehen davon sprichst du mir (& bestimmt noch vielen anderen auch) aus der seele. auch ich sehne mich in mein nest zurück, welches deinem in mancher hinsicht ähnelt. ich weiss, dass ich in dieser phase genau auf dem weg war, den ich tag für tag versuche wieder einzuschlagen. auch wenn dort diese kleine stimme in meinem kopf ist, die mir sagt, dass ich nicht weiss, wo es enden würde. ich weiss einfach noch, wie sicher & gut ich mich gefühlt habe, wie ich mich treiben lassen konnte & wie anders ich dinge warhrgenommen habe, als andere menschen. ja, ich war einzigartig, stark und auf dem weg so zu werden, wie ich sein wollte. in einer art trance. viel besser als alle anderen bedürfnisstillungen. ich war mein und meinem selbst so nahe. ich wünsche dir, dass du dir im klarem darüber wirst, welche rolle du in dieser großen welt einnehmen willst & dein leben genießen kannst. alles liebe <3
AntwortenLöschenich hab deinen blog gerade entdeckt und.. wow. du schreibst soo gut. einfach echt. darf ich dich auf meinem blog verlinken?
AntwortenLöschenDanke :)
Löschenwahnsinn. tiefsinnig & berührend, wirklich.
AntwortenLöschen(wo finde ich den button zum folgen?)
herzliche grüße & alles liebe!
Ich suche auch verzweifelt nach dem Follow-Button :D
Löschenalso falls du ihn finden solltest, sag mir bitte bescheid! :D :)
LöschenDieser Text ist so unglaublich authentisch und berührend, ich kann mich in so vieles einfühlen und mich wiedererkennen...ich kann gar nicht in Worte fassen, wie toll du schreibst.
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