Donnerstag, 21. März 2013

Das Leben der Anderen?

Es kann auch so kommen:

Phoebe (welche den ganzen Tag bei psychedelischer Musik und mit ihrem Laptop - Spider Solitär - im Bett verbracht hat, frustriert weil ihre Therapeutin krank ist) fährt abends, nach einem seltsamen Besuch bei T., bei dem die vorgestrigen Entwicklungen diskutiert wurden (ergebnislos), zu ihrer Freundin Penny (die zwar nicht Penny heißt, aber der Name passt wunderbar) und deren Freund.
Ewig keinen Kontakt mehr gehabt, sich wieder angenähert, wahnsinnig gut verstanden.
Und sie erlebt, wie so ein Abend laufen kann. Unter Lebenden.

Penny wohnt in "The Big Bang Theory"-Manier (sie ist blond und schlagfertig und groß) in direkter Nachbarschaft zweier einigermaßen nerdiger Kumpels (die rein optisch Lennard und ein hünenhafter Howard sein könnten) in einer ziemlich coolen Dachwohnung in meiner Nähe.
Als ich von T. komme, fängt es an zu regnen. Ich habe mich seit Wochen zum ersten Mal geschminkt, meine Haare geföhnt und mich ein bisschen netter angezogen, was sich ganz gut anfühlt. Ungewohnt, maskiert, aber auch erstmals wieder ansehlich.
Ich klettere die Treppen hoch, begrüße erst Pennys Hund, dann sie, Händeschütteln mit ihrem Freund. Er ist mir auf den ersten Blick sympathisch - groß, etwas kräftig, schiefes Lächeln mit schiefen Zähnen und freundlicher Stimme. Nachdem ich so viele Geschichten aus ihrer beider Leben kenne, ist es komisch, tatsächlich mit diesen Menschen in einem Raum zu sein. Ich fühle mich vertraut und fremd zugleich. Meine Stimme klingt etwas rau und heiser.
Es gibt kein Eis zu brechen - das Reden kommt ganz natürlich und selbstverständlich. Über mich, über gemeinsame Kindheitserinnerungen mit Penny, über den Job ihres Freundes.
Wir sitzen mit Kaffeetassen und Guiness (natürlich nicht für mich) an einem riesigen Holztisch und rauchen was das Zeug hält. Ich berichte von meinem Besuch bei T.
Rücksichtsvoll und nachdrücklich wirken beide auf mich ein. Pennys Freund hatte jahrelang einen besten Freund, der drogenabhängig war. Ihre Mutter trinkt selbst. Wir reden über Sucht-Persönlichkeiten, über Co-Abhängigkeit, über Lügen und Macht.
Es tut wahnsinnig gut, das spüre ich. Ich fühle mich vertsanden und gehalten, die letzten Zweifel verfliegen.
Wir springen über zu gemeinsamen Bekannten, ich höre mir lustige Anekdoten an (Pennys Leben ist wirklich wie eine Sitcom) von Reisen und Unfällen und Partys, Festivals, Abstürzen, Theaterleuten und den Jungs aus der Wohnung unter uns.
Es ist schön, dass ich bei weitem die Jüngste bin und trotzdem "dabei". Ich war noch nie "dabei".
Das Stichwort Politik fällt, Pennys Freund und ich stürzen uns gierig darauf. Wie sehr ich diese Diskussionen vermisst habe! Keine Kontroversen, viel mehr ein sich gegenseitig entsprechen. Wir kommen auf Lobbyismus, Versicherungen, Religion, Freud, Southpark. Kennt ihr das? Man könnte allein über Southpark tagelang reden, indem man sich an die genialsten Folgen und Szenen erinnert.
Wir kochen Tee. Penny holt Kekse raus. Sie und ihr Freund leeren Gauloises rouges, ich meine L&Ms.
Je mehr ich dort sitze und eins mit dem Raum und meinen Gegenübern werde, je mehr Geschichten ich höre, umso dringlicher beschleicht mich der Gedanke, extrem viel verpasst zu haben.
Es geht nicht darum, dass ich noch nie richtig betrunken war und die ganzen lustigen Betrunkenen-Geschichten ohne mich stattgefunden haben, das will ich gar nicht erleben.
Es geht darum, dass es da offenbar eine Szene gibt, ein paar hundert Meter von meinem Haus entfernt, die LEBT. Es gibt Affären und Intrigen (Sitcom...), man fährt mit dem VW-Bus nach Irland oder Kroatien. Man zeltet in Amsterdam. Man geht in Irish Pubs in Frankfurt und in Clubs mit Indie-Musik. Man trifft sich am ersten Mai zum Kiffen und hört dabei die Platten unserer Eltern. Man schaut sich jeden Sonntag Abend in der Wohnung der Jungs gemeinsam Günther Jauch an und zerreisst die politische Elite. Man arbeitet, studiert. Spart auf Konzerte und das Southside oder Hurricane. Man kommt nachts spontan vorbei. Man hat einander, unverbindlich-verbindlich.
Das. Das habe ich verpasst. Und Penny gibt mir das Gefühl, ich könnte und sollte dringend ein Teil davon werden.
Ich bin glücklich, Leipzig-glücklich. Schneeballschlacht mit Lulu-glücklich.
Aufgedreht. Meine Nase glänzt, meine Haare sind lockig und wild, ich kann gar nicht so viel Tee und Saft trinken wie mich die Zigaretten und die Unterhaltung durstig machen.
Um halb zwölf hören wir Schritte im Treppenhaus, kurz darauf betritt Lennard das Zimmer. Ich war - das gebe ich ehrlich zu - extrem neugierig auf diesen Mann (ich habe die beiden Mitbewohner oben immer "die Jungs" genannt, dabei sind sie Ende zwanzig, eher Anfang dreißig). Er war früher mit meiner besten Freundin zusammen, sie hat mir in Leipzig sehr viel von ihm erzählt. Dass er wegen Depressionen in einer Klinik war, Workaholic ist, seit ein paar Monaten vegan lebt und dadurch radikal 15 Kilo abgenommen hat. Dass er verbissen und ehrgeizig und ein Charmeur sei. Sie und Penny meinten im Vorfeld scherzhaft, ich würde angeblich in sein Beuteschema (dünn, rötliche Haare - weder noch?!) passen und solle mich in acht nehmen.
Wir geben uns die Hand. Ich wusste, dass er klein war, bestimmt zehn Zentimeter kleiner als ich, aber er wirkt so... schmächtig und zart. Seine Stimme ist viel zu tief, sein Gesicht zu markant als dass es zu seinem Körper passen könnte. Er hat ein Glas Weißwein dabei, vielleicht ist es auch Saft mit viel Wasser. Penny wirft ihm die eine Kippe über den Tisch. Unser Gespräch erstarrt kurz, kommt rumpelnd wieder in Gang.
Ich fühle mich beobachtet, gemustert. Zu dick und zu schwer, verunsichert.
Pennys Freund grinst und beginnt einen Monolog über den Running Gag des Abends, Manipulation durch positive Suggestion, zu halten.
Ich falle ihm ins Wort, heiser, bin sarkastisch und politisch unkorrekt und schlagfertig. Wir albern herum, ärgern Penny ("Phoebe, warum fällst du mir so in den Rücken?", sie lacht und ihre Haare schimmern silbrig, "du kannst doch unmöglich eine Allianz mit diesen Schwachköpfen gegen mich eingehen?"), ärgern ihren Freund, ärgern Lennard. Auch ich bekomme ein paar Spitzen ab, aber sie sind stumpfer als jene, die ich gewohnt bin, und sie sind nett gemeint.
Howard streckt kurz seinen Lockenkopf in die Wohnung, um Hallo und gute Nacht zu sagen.
Wir sitzen noch eine Stunde zusammen, es ist nicht mehr so unverkrampft wie vorher, aber dennoch schön.
Im Badezimmerspiegel sehe ich leicht beschwipst aus.
Fremd. Ich berühre meine Wange. Sie glüht.
Ich knete meine Haare zurecht und wische die verschmierte Wimperntusche (habe ich vor Lachen geweint?) mit zitternden Fingern aus dem Gesicht. 
Leben.
Reisen, Sprechen, Spüren, Feiern, Lachen, Kind sein. Erwachsen sein. Sich verlieben. Frei sein.
Ich beschließe, bei Penny zu schlafen. Sie sit sehr süß und macht mir eine Wärmflasche, weil sie um meine fressbedingten Bauchkrämpfe weiß. Ich darf ihr Killers-Shirt zum Schlafen anziehen (das ist eine Ehre!).

Später in der Nacht liege ich auf der roten Schlafcouch im Wohnzimmer, esse Schokolade und lese "Das Schicksal ist ein mieser Verräter" von John Green, das auf dem Fensterbrett lag. Es ist sehr hell und ich bin aufgewühlter als müde. Aus dem Schlafzimmer vernehme ich das Knarren von Lattenrosten unter Matratzen unter sich liebenden Körpern. Das Geräusch macht mich traurig, oder eher sehnsüchtig?
Mein Kopf ist voll von Worten und Eindrücken und unendlich schwer. Ich muss lächeln.







7 Kommentare:

  1. ein sehr schöner Text! Ich freue mich das du so einen schönen Abend hattest!
    Hoffe das es gut weitergeht :)

    Liebe Grüße ♥

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  2. wie man eintaucht
    abtaucht
    in diesen abend,
    wunderschön und mitreißend geschrieben.
    ich wünsche dir mehr davon! ♥

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  3. Der Text ist so geschrieben, dass man die Eorte fühlen kann. Mein Kompliment <3

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  4. Dir scheint der Abend und diese Gesellachaft gut getan zu haben :) Schön!

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  5. Klingt nach einem sehr schönen Abend und wirkt wie der richtige Weg für dich.

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  6. Von mir aus kannst du das jetzt jedes Wochenende machen, damit ich noch mehr so schöne Texte zu lesen bekomme :-)

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