Freitag, 15. März 2013

Zunehmen als Leistungssport inklusive Preisgeld? - Leipzig

Ich habe es halt einfach geschafft, in 8 Tagen 8 kg zuzuznehmen! 
Applaus bitte!
Ich hätte einen Binge-Orden verdient.
Ja, kann sein, dass es etwas weniger ist, immerhin habe ich schon zwei Milchkaffee intus und so weiter, aber die Zahl ist dennoch erschreckend. Wenigstens keine 6 vorne, sonst hätte ich wahrscheinlich direkt zur Klinge gegriffen. Halt - Stop - das mache ich ja nicht mehr.
Meine Therapeutin ist offenkundig ratlos. "Ist es der Wunsch, voll zu sein; im Gegensatz zu dem permanenten unterschwelligen Hungergefühl der Phase zuvor, der Sie antreibt?"
"Ich weiß nicht, kann sein. Ich höre einfach nicht auf. In den vier Tagen in Leipzig habe ich mir mehrmals täglich regelrecht Rationen gekauft, die dann doch nie gereicht haben. Ich habe durchgängig Sodbrennen und das Gefühl, mein Magen platzt. Schön ist das nicht. Und ich sehe die Zunahme!"
Es sieht merkwürdig aus, im Übrigen: Mein Oberkörper ist relativ knochig, Brüste klein (was mir besser gefällt als wenn sie so groß und offensichtlich da rumhängen), man sieht die Rippen im Dekollete. Dann ein schwangerer Bauch, der sich auch zum schauspielern an diversen Ostdeutschen Raststätten eigenet (ich trage Leggings und ein weites Shirt, die Hände über dem rausgestreckten "Babybauch" gefaltet, und watschele selbstvergessen umher). Es folgen die Beine: Superattraktiv! Fette Oberschenkel, die sich fast wieder berühren, und kurz über'm Knie wieder dünne Stelzen. Toller Look, Honey.
Der Knüller ist aber mein Gesicht. Ich sehe es einfach zuerst an meinem Gesicht. Was ich vor einer guten Woche noch zart und beinahe hübsch fand (an der Stelle danke, liebe Butterfly, für das Kompliment!), ist jetzt wieder undefiniert breit, pausbäckig, Doppelkinn-Ansatz. Und ein paar stylische Fress-Pickel.
Kurz gesagt - ruiniert.
Interessant ist, dass mir das in Leipzig (wo ich meine beste Freundin in ihrer ersten eigenen Studentenwohnung besucht habe) völlig schnurz war. Ich hatte vier Tage lang eine hässliche schwarze H&M-Leggings in M an, dazu wahlweise ein langes, weites Wollkleid oder einen blauen Riesen-Kapuzenpulli. Gammelige Schneeschuhe und gammelige Steppjacke von meiner Schwester (aus Kindertagen). Mütze druff, fertig. Normalerweise halte ich mich für durchaus modebewusst und ziemlich eitel und penibel, was mein Erscheinungsbild angeht, also auch Haare ect. Aber an diesen vier Tagen war es irgendwie so unwichtig.
Und es ging mir gut damit! Ich fühlte mich um meiner selbst willen gemocht und gefordert. Ganz seltsam.
Ich futterte mich durch den Tag wie eine große Raupe Nimmersatt (durchschnittlich 6000 kcal) und es war okay. Ich hatte nicht mal ein schlechtes Gewissen.
Es war wunderschön.
Wir frühstückten Müsli und Schokobrötchen mit Pflaumenmus (und einer heimlich verdrückten Tafel Schokolade, wenn J. duschen war), hörten The XX oder Florence and the Machine, hatten Kerzen an und planten den Tag. Stalkten ein bisschen auf Facebook, machten uns fertig. Also ich mich nicht richtig. Meine Freundin, müsst ihr wissen, hat einen wunderschönen Stil. Sie ist klein und sehr hübsch, trägt Pixie und große, rostfarbene Cardigans, einen coolen Mantel von ihrer Mitbewohnerin und ein wenig Wimperntusche. Das coolste an mir war tatsächlich mein alter, karierter Zara-Schal.
Wir fuhren also mit der Straßenbahn in die wunderschöne Innenstadt, zur Uni, gingen spazieren, kauften ein und kochten in der gemütlichen Altbau-Wohnung superleckeren Schweinkram mit Olivenöl und Gemüse.
Wir guckten Filme auf ihrem Laptop, im riesigen weißen Bett leigend, mit Wärmflaschen und Tee und fetten Wollsocken an den Füßen. Wir schlenderten durch eine Wohnwagensiedlung, klapperten Second-Hand-Läden ab und führten ehrliche und tiefe Gespräche über Identität, Körperbild und Philosophie.
Wenn es etwas gibt, was mich in den letzten Jahren wirklich motiviert hat, Abi zu machen, dann die Aussicht, zu ihr nach Leip'sch zu ziehen und dort zu studieren. Vergleichende Kulturwissenschaften,  Journalistik, Sozialökonomie. Sowas halt. Es wäre wirklich schön, einen Alltag zu haben. Es wäre schön, in einer Stadt zu leben, in der mich nichts an meine ekelhafte Schulzeit, nichts an T. erinnert.
In der man einfach so eine vierspurige Straße überqueren kann, ohne überfahren zu werden (versucht das mal in Frankfurt an der Konstablerwache!).
In der es zig tolle, kleine Läden gibt, alles viel billiger ist als hier. Die Häuser alt und zum Teil elegant restauriert sind. Wohnungen günstig sind (ich meine, okay, man verdient eben auch echt viel weniger als im Westen, aber damit muss man eben haushalten).
Man kann für 15€ von Frankfurt nach Leipzig fahren.
Das wär's.
Tja, und irgendwie drängt sich mir der Eindruck auf, dass ich, wenn es mir gut geht (und mir ging bzw geht es wirklich gut, zum ersten Mal seit Monaten), zum Überfressen neige.
Meine Therapeutin hat ja Recht, wenn sie mich daran erinnert, dass ich ziemlich scheiße drauf war vor 'ner Woche mit 'nem BMI von 16,7.
"Aber ich war selbstbewusster!" Stimmt das wirklich? Ich fand mich attraktiver, ja. Ich war disziplinierter. Ja doch. Aber ich war traurig.
Das bin ich auch immer noch, ganz tief drin. Ich träume viel von T. und von grässlichen Schul-Geschichten.
Ich fühle mich zwanghaft gedrängt, mich vollzustopfen, wann immer es möglich ist, obwohl ich im Spiegel eine Entwicklung sehe, die mir nicht gefällt.
Was denke ich, wenn ich Fresse? Ich denke: Hey, was solls, ich kann doch immer wieder abnehmen. Ich denke: Morgen hungerst du wieder, nur noch schnell diese Packung Vanille-Eis leermachen. Und ein Nutellaglas! Ich denke: Scheiß was drauf.
Was denkt ihr, wenn ihr fresst?
Was denkt ihr, wenn ihr im Bett liegt und das Essen in euch so intensiv spürt wie einen zudringlichen Liebhaber? Wenn ihr euch verführen lasst?
Gibt es Ausflüchte, wie bei mir?
Ich weiß nicht, was ich will. Oder vielleicht schon. Ich will dünn sein. Ich will aber auch essen können, mit J. kochen können. Rumlaufen können ohne umzukippen wegen Unterzucker. Ich will dünn sein und ich will studieren. Ich will nicht den ganzen Tag über Kalorien nachdenken müssen. Aber ich will eine 4 vorne auf der Waage sehen! Es ist so komplex und undurchsichtig.
Ich fahre jetzt ins Fitti.
Und Tabak kaufen.

Trés chic in L.

2 Kommentare:

  1. Ich hatte Ende 2011, als ich mich von meinem mann trennte, innerhalb von 2 Wochen acht Kilo zugenommen. Mein Gewicht schwankte innerhalb der letzten 5 Monate zwischen 38 und 63 Kilo. Und habe leider auch sonst FAs. Ich denke dann auch immer: Jetzt ist es eh egal, du wirst dann hungern, am Besten nie wieder etwas essen. Das Gefühl ist zwischen fress-Ekstase und Selbstschädigung, da ich irgendwie weiß, dass es mir danach schlecht gehen wird. Aber mir ist das dann egal. Es ist ein Rausch. Ein kurzes Hochgefühl. Alles, was ich mir sonst verboten habe, stopfe ich in mich rein in nahezu kompletter Gedankenlosigkeit.

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  2. ups, mir ist gerade aufgefallen, dass ich mich verschrieben habe: ich meinte "innerhalb der letzten 5 jahre", nicht "innerhalb der letzten 5 monate"!!

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