Dienstag, 26. März 2013

"Vertrauliche Arztsache".

Taumelig fahre ich zu meinem Kinderarzt, um die Klinikberichte abzuholen. Die Sonne ist genauso verschlafen und selig wie ich.
Im Bus drehe ich eine Zigarette und beginne, zu lesen:

"Die Patientin war wach, bewußtseinsklar und zu allen Modalitäten orientiert. Im Kontakt wechselnd zwischen Nähe und Distanz [...], psychomotorisch angespannt und unruhig. Im Affekt niedergschlagen, erschöpft, kraftlos. Wechsel zwischen Selbstüberhöhung und -Entwertung, ängstlichem Erleben. [...]
Eine Gewichtsabnahme auf einen BMI von 12,3 durch Nahrungsrestriktion sowie emotionale Instabilität mit wechselhaften Stimmungen, Ängsten, Selbstidealisierung und -Entwertungen, autodestruktivem Verhalten, suizidalen Tendenzen und eine insgesamt zunehmende psychophysische Erschöpfung stellten den Anlass für die stationäre Aufnahme dar. [...] Frau R. fühle sich abwechselnd riesenhaft und erbärmlich klein, genieße exzessive Grenzüberschreitungen, fühle sich hilf- und haltlos in partnerschaftlichen Beziehungen und empfinde heftige Schuldgefühle.
[...] 

Die konflikthafte Konstellation mit der Lehrerin (die Patientin hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eklatant an Gewicht verloren) führte zu einer Reaktualisierung kindlichen Erlebens [...], eine Kompensation über ihre schulische Leistungsfähigkeit und inneren Omnipotenzphantasien zeigten sich im Zuge der Krise nicht mehr ausreichend. Die Aufforderung der Lehrerin, der Schwester und Mitschülern schulisch zur Hilfe zu kommen, erlebte Frau R. als illegitime Delegation der Aufgaben der Lehrerin an sie. Die Wut darüber brachte die Patientin durch eine Umkehr der Rollen zum Ausdruck, indem sie der Lehrerin gegenüber die Rolle der Lehrerin einnahm.
Damit wiederholte sich das Dilemma der Patientin in der Ursprungsfamilie. Die Übernahme erwachsener Rollenanteile sowohl dem Vater als auch der Mutter gegenüber erschwerten die Erfüllung des Bedürfnisses, sich in einer kindlich-verantwortungslosen Rolle umsorgen lassen zu können [...].
Vor dem Hintergrund der Überhöhung durch die Eltern und einer zugrundeliegenden labilen Bindungserfahrung zu Vater und Mutter war die Patientin zudem unklaren (Generationen-)Grenzen in der Familie und wechselnden Bindungen ausgesetzt, sodass Frau R. sich früh durch enorme Schwierigkeiten hinsichtlich der emotionalen Nähe-Distanz-Regulation in Beziehungen überfordert erlebte.
[...] Gefühle der kindlichen Bedürftigkeit, besonders nach Schutz und Nähe, stark ausgeprägt.
[...] Frau R. lernte in ihrer Kindheit nicht ausreichend, ihre Emotionen und Bedürfnisse adäquat auszudrücken und Konfliktsituationen zu bewältigen. Dies führte zu einer großen Unsicherheit im Umgang mit anderen und der Sorge, zu viel "Platz" für sich selbst einzufordern und dadurch auf andere abstoßend zu wirken. Ihre nach außen gezeigte Fassade stimmt nicht mit ihrer Selbstrepräsentation überein, was zu Schwierigkeiten in der Beziehungsgestaltung führt. Angst macht der Patientin vor allem die Reaktion auf ihre Wut von seitens ihrer Mitmenschen. [...] Die Esstörung erlaubt es Frau R. ihre Aggressionen indirekt auszuleben und nach außen zu zeigen, dass "etwas nicht stimmt".
[...] Die Regulation einer angemessenen Abgrenzung fiel ihr innerhalb der Gruppe schwer. In der Einzeltherapie schwankte Frau R. zwischen bedürftig-hilfesuchenden Anteilen und autodestruktiven, zu denen jeweils im Nachhinein ein Zugang und gemeinsames Betrachten möglich wurde."


Anstrengender, bemitleidenswerter Mensch, diese Frau R. Soll ich das sein?

4 Kommentare:

  1. Als ich den Text gelesen habe, sind mir die Adjektive anstrengend oder bemitleidenswert wirklich nicht in den Sinn gekommen.
    Vielmehr dachte ich daran: Was für ein anstrengendes, ermüdendes Leben muss diese Frau R. führen? Wie sehr muss sie sich gefangen fühlen, wie lange musste sie schon so leben und wird sie sich irgendwann aus sich selbst befreien können?
    Bemitleidenswert ist sehr negativ besetzt. Dabei ist Mitleid doch eigentlich ein positives Wort. Man leidet mit jemandem. Und genauso habe ich mich gefühlt. Als würde ich mitleiden, mitfühlen. Und es tat mir Leid, dass jemand so ein Leben führen muss.
    <3

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  2. Anscheinend..aber keineswegs bemitleidendswert! Ich meine klar, man denkt sih: "armes mädel :C" aber im positiven Sinne. Es ist sicher hart, das alles so schwarz auf weiß stehen zu sehen..
    drück dich :*

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  3. Auf einem lächerlichen DIN A4 Bogen ist also das Wesen einer Person niedergeschrieben, eine komplette Analyse des Verhaltens, des Denkens, des Lebens. Unverschämt, erniedrigend, abwertend.
    Hey, ich will wissen wer ich bin und wie ich so ticke. - Ein Moment, erzählen Sie mir ein wenig von sich, ich analysiere Sie mal schnell und tippe es ab. So bittesehr, auf diesem Blatt Papier befindet sich Ihr Leben, aus den Worten werden sich alle Ihre sonstigen Fragen von selbst beantworten, jetzt wissen Sie, wer sie sind. Der nächste bitte!
    Ein Mensch besteht doch aus so viel mehr, wie kann es also jemand wagen, nur zu versuchen, ihn zu durchleuchten.
    Ich halte nicht viel von den Deutungsversuchen anderer Menschen, auch wenn derjenige, der diesen Bericht geschrieben hat sicherlich nicht zu den ganz dämlichen gehört.

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  4. Wenn ich solche Berichte gelesen habe, fragte ich mich auch immer wieder: Wurde meine Person gerade in einem langen Text dieser Art zusammengefasst?
    Wo bleibt das Leben, wo bleibt die Freude die ich wiedergefunden habe in der Klinik? Wieso steht hier nur die negative Seite, wieso nur meine Probleme?
    Wo steht, das ich wieder das Lächeln in mir gefunden habe?
    Ich konnte es außerdem nicht fassen, das ich wirklich aus so vielen Problemen bestehe. Das mein Körper mit solch einem Haufen Dreck voll ist.
    Vielleicht sollte man Punkt für Punkt aufschreiben, was man ändern will/kann.
    Ich weiß es nicht. Vielleicht sollte man einfach eine Schublade öffnen, den Bericht hineinlegen und ihn dort liegen lassen.

    Ich drück Dich:)

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