Mittwoch, 10. April 2013

Teppichlesen.

"Es ist richtig, wie Sie sich intuitiv von T. abgrenzen. Sie schaffen sich einen Raum ohne ihn, Sie atmen. Es ist ganz natürlich, dass Sie noch nicht sicher sind in dem, was Sie tun, aber der Weg ist der Richtige. Auch was Sie von Ihrer Mutter erzählen, stimmt mich zuversichtlich - sie muss akzeptieren lernen, dass Sie das Kind sind. Sie und Ihre Schwester, Sie dürfen die Mutter aus bestimmten Gesprächen ausgrenzen..."
Frau L. streift eine aschblonde Locke hinter ihr Ohr und sieht mich an.
Ich nickte langsam.
"Komischerweise denke ich immer noch an das Abnehmen.", sage ich schließlich zögernd. Sie fixiert meinen Blick: "Das ist nicht ungewöhnlich. Da sind so viele Konflikte in Ihnen, unter der geglätteten Oberfläche bebt es nach wie vor. Lassen Sie sich Zeit, das wird sich geben."
Ich betrachte ihren komischen, neuen Teppich - weiß und flauschig und ein Fremdkörper. Es ist immer ein seltsames Gefühl, nach ihrem Urlaub wieder hier zu sein. Warum brauche ich das? Brauche ich das tatsächlich immer noch? Die Frage springt über in die Realität, beantragen wir sechzig weitere Sitzungen oder nicht? Ich soll darüber nachdenken. Ich denke darüber nach.
So viele Stunden, die ich in diesem Raum verbracht habe. Drei Jahre. Ich sehe mich selbst die Treppenstufen zur Praxis hochsteigen - mit kurzem Haar. Mit 68 kg. Mit 40 kg. Mit schweren Mänteln, mit luftigen Kleidchen, mit rotgeweinten Augen, nach Rauch riechend oder nach Winter, strahlend, schwer atmend, abweisend, bedürftig, laut polternd, mit tanzenden Locken, ungeschminkt, angestoßen, verzweifelt, suchend, euphorisch, zitternd.
Meine Angststörung ist passé, mein Gewicht ordentlich, meine Depression mit Medikamenten und Routinen so eingedämmt, dass sie mich nicht am Leben hindert.
Soll ich bleiben? Einen Rückhalt behalten, einen Fluchtpunkt, eine Oase der Aufrichtigkeit?
Soll ich gehen? Mich von den Spinnenweben lösen, die mich mit der Vergangenheit verbinden?
Und wenn gehen, wohin?

6 Kommentare:

  1. Eine schwere Entscheidung, bei der die niemand außer dir selbst helfen kann...
    Was sagt dein Bauchgefühl?

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  2. Da gebe ich der Vorkommentatorin ganz Recht.

    Wie leicht ist es, deine Frau L. im Zweifel zurückzubekommen? Sagen wir, du würdest dich dazu entschließen, die Therapie zu beenden und sie zu beenden wäre die falsche Entscheidung...wie schnell könntest du zurück?
    Würde es schaden, noch 60 weitere Sitzungen zu beantragen? Und wenn nicht direkt schaden - könnte die Fortführung (mit all den Gedanken und Erlebnissen an die Vergangenheit) den Fortschritt der dir hoffentlich bevorsteht, verhüten?
    Ist die Tatsache, dass du dir nicht sicher bist, ob du gehen oder bleiben sollst, nicht an sich schon ein Indiz dafür, dass du innerlich noch nicht vollends bereit bist und aus Überzeugung sagst: Ich will aufhören, ich habe damit abgeschlossen, ich bin soweit ?

    Das sind keine Fragen, die ich beantwortet haben möchte, es sind lediglich Fragen die du in deine Abwägungen mit einbringen könntest, insofern du glaubst, das könne helfen.
    ___________

    Schön, dass du es ähnlich siehst :) Weißt du, dass wir mit der Auffassung ziemlich einsam dastehen? - zumindest an meinem Freundeskreis gemessen, in dem jede/r Zweite sofort motzig wird, wenn ich mich auf Parties oder DvD-, Koch-, Spiele-, Was-auch-immer-Abenden vor überall lauernden Kameras in Sicherheit bringe -.-''
    Das Kompliment kann ich eins zu eins zurückgeben...vorallem dein Bild in Leipzig (?!) das so herrlich gelassen, entspannt und ungestyled schön aussieht, finde ich toll.

    liebe Grüße


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  3. hallo liebe phoebe,
    vielen dank für deinen kommentar, er hat mir wie gesagt sehr geholfen, zu meiner urspünglichen entscheidung zu stehen.
    ich würde sagen, dass es nie schaden kann, die therapie noch etwas fortzuführen. du kannst ja z.b. auch nur einmal im monat was ausmachen, wenn es grad gut läuft und sobald sich wieder so schwierige gedanken aufdrängen erhöhst du die frequenz wieder.
    ich finds einfach gut, wenn man jemand neutrales zum besprechen solcher sachen hat und da immer noch einen rettungsacker hat, wenn es mal wieder den bach runtergehen sollte.
    ich werd mir ab herbst dann auch wieder jemanden suchen.
    aber es freut mich erstmal, dass du schon so viel für dich erreichen konntest.
    t. ist dein ex-freund, mit dem du so lange zusammen warst, erinner ich mich da richtig?
    ich drück dich zurück <3

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  4. hallo phoebe,
    ich glaube du solltest dir diese Fluchtmöglichkeit beibehalten.
    Es gibt immer Tage an denen es nicht läuft, wie es sollte.
    Zu wissen jemanden zu haben ist gerade für diese Tage besonders wichtig!
    Alles alles liebe <3 Nicci

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  5. Genau dieses Gefühl habe ich auch jedes Mal wieder, wenn ich die Treppe hochhaste und meiner Therapeutin die Hand gebe. Diese Frau hat in die tiefsten Abgründe meine Psyche gesehen und mir in den letzten zwei Jahren immer wieder Rückhalt gegeben. Du wirst dich sicherlich noch einmal an dem Punkt befinden, der nach einer einfühlsamen, verständnisvollen und vor allem professionellen Unterstützung schreit - ich verweise nur auf deinen Zustand vor einigen Wochen. Die Entscheidung ist keineswegs schwierig.

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  6. Wenn das Zusammenspiel von deiner therapeutin und dir insgesamt gut und von Vertrauen geprägt war und auch dir Therapieform für dich dir Richtige, würde ich die Chance nutzen. bei mir waren genau das die Gründe dieses jahr gewesen, nach 2 jahren nicht nochmal zu verlängern.

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